Grundrente - Das Modell des BMAS
Grundrente
Das Drei-Komponenten-Modell des Bundesarbeitsministers
Johannes Steffen | Februar 2019
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Wahlperiode sieht die Einführung einer »Grundrente« vor. Der Vertragstext führt aus: »Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Die Grundrente gilt für bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der »Grundrente« ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung.« [1] – Die Abwicklung der »Grundrente« soll über die Rentenversicherungsträger erfolgen.
Vorrangiges Ziel des Vorhabens ist demnach die Honorierung von Leistung – in diesem Fall von Lebensleistung. Instrumentell erreicht werden soll dies im Wege einer Einkommensaufstockung auf zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsniveaus. Hinsichtlich der Leistungsart verweist die gewählte Begrifflichkeit auf eine Rentenzahlung. An Zugangsvoraussetzungen werden sowohl die fürsorgerechtliche Bedürftigkeit als auch eine rentenrechtliche Wartezeiterfüllung genannt.
Eine der Koalitionsvereinbarung gerecht werdende sozialrechtliche Umsetzung des Koalitionsvorhabens »in einem Wurf« ist nicht möglich – das ist, kurz gefasst, das Ergebnis des Bund-Länder-Sozialpartner-Dialogs. [2] Was nicht am fehlenden Willen oder an Phantasielosigkeit der Dialog-Beteiligten lag, sondern an den Vorgaben im Koalitionsvertrag. Je nach Geschmack oder Blickwinkel hat er eine »bedarfsabhängige Rente« oder den weiteren Ausbau der »vorleistungsabhängigen Fürsorge« im Angebot.
Anfang Februar 2019 lancierte das Bundesarbeitsministerium (BMAS) »Kernbotschaften« einer Grundrente in die Öffentlichkeit, die als Versuch zu werten sind, den »Gordischen Knoten« des Koalitionstextes zu zerschlagen. [3] Das Grundrenten-Konzept des BMAS umfasst insgesamt drei Regelungsbereiche:
- Das Herzstück der »Grundrente« wird im SGB VI geregelt: Bei mindestens 35 Jahren an Beitragszeiten, Kinderberücksichtigungszeiten oder Zeiten ehrenamtlicher Pflege (»Grundrentenzeiten«) sowie einer erwerbslebensdurchschnittlichen Entgeltposition von mindestens 20 Prozent des Durchschnittsentgelts (= 0,2 Entgeltpunkte (EP) pro Jahr) wird dieser Durchschnitt verdoppelt – für maximal 35 Jahre und auf höchstens 80 Prozent (= 0,8 EP pro Jahr). Liegen bei erfüllter Wartezeit weniger als 35 aufstockungsfähige Beitragsjahre vor, so ist die Aufstockung auf diese Zeiten begrenzt. – Eine Bedürftigkeitsprüfung findet im SGB VI nicht statt.
- Wer 35 Jahre an »Grundrentenzeiten« vorweisen kann und Grundsicherung im Alter nach SGB XII bezieht, erhält bei der Ermittlung des auf den Grundsicherungsbedarf anrechenbaren Einkommens einen Freibetrag in Höhe von 25 Prozent des (aufgestockten – vgl. Punkt 1.) Rentenzahlbetrags – maximal aber in Höhe von 25 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 (2019 wären dies 106 Euro, was aktuell dem Zahlbetrag von 3,71 EP entspricht). – Der SGB-XII-Leistungsbezug impliziert seit jeher eine Bedürftigkeitsprüfung.
- Bei Ermittlung des Gesamteinkommens nach dem Wohngeldgesetz (WoGG) erhalten Rentner mit 35 Jahren an »Grundrentenzeiten« einen Freibetrag von 125 EUR monatlich (1.500 EUR pro Jahr); zudem sollen die Miet- und Einkommensgrenzen nach dem WoGG regelmäßig angepasst werden. – Für die Umsetzung dieses dritten Punktes wäre allerdings nicht das BMAS, sondern das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat zuständig.
Während also die Rentenaufstockung an Wartezeitvoraussetzung und niedrigen Entgeltdurchschnitt gebunden ist, heben die Regelungen im SGB XII und im WoGG »nur« auf das Wartezeiterfordernis ab.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der »Kernbotschaften« hagelte es Kritik von (fast) allen Seiten. Hier nur eine kleine Auswahl der vorgebrachten Einwände:
- Die wohl lustigste Vorhaltung lautet: »Der Vorschlag entspricht nicht dem Koalitionsvertrag.« – Dies nun gilt nach der monatelangen Fachdebatte für jeden nur denkbaren und verfahrenstechnisch praktikablen Vorschlag zur Umsetzung des Koalitionstextes.
- »Der Vorschlag hilft nicht zielgenau gegen Altersarmut. Wegen fehlender Bedürftigkeitsprüfung begünstigt er auch jene, die die Grundrente nicht brauchen.« Kurzum: Da werde Rentenpolitik mit der Gießkanne betrieben. – Unweigerlich erscheinen auf der Debattenbühne Heerscharen von Zahnarzt-Gattinnen und Kleinstrentnern mit Millionen-Erbe. Anders als etwa bei der »Mütterrente II« – zu der es im Koalitionsvertrag ausdrücklich heißt: »Das ist ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung von Altersarmut« – ist das vorrangige Ziel des »Grundrenten«-Projekts allerdings die Honorierung von Lebensleistung und nicht die Bekämpfung von Altersarmut – obwohl dies oder genauer die Vermeidung von Grundsicherungs-Berechtigung ein sehr wohl beabsichtigtes Ergebnis ist. Außerdem impliziert Punkt 2. des BMAS-Konzepts eine Bedürftigkeitsprüfung. – Dennoch sind die Einwände inhaltlich durchaus erhellend: Für die Honorierung von Lebensleistung ist nach dieser Interpretation des Koalitionsvertrages eine Bedürftigkeitsprüfung offenbar unabdingbar während bei der Bekämpfung von Altersarmut (»Mütterrente II«) gerne auch mal auf die Bedürftigkeitsprüfung verzichtet werden kann.
- Die Wartezeit von 35 Jahren wirke wie ein Fallbeil und widerspreche im Ergebnis dem Äquivalenzprinzip: Wer 35 Jahre (eventuell durchgehender Teilzeit) vorweisen kann, dessen Rente wird aufgestockt – wer dagegen die Wartezeit nach nur 34 Jahren (eventuell durchgehender Vollzeit) auch nur knapp verfehlt, geht leer aus. – Obwohl die 35 Jahre DAS »vertragstreue« Element des vorgelegten Konzepts sind, trifft der Einwand in der Sache natürlich zu. Zu bedenken ist hierbei allerdings auch, dass rund drei Viertel der Altersrenten mit weniger als 35 Beitragsjahren auch keine 30 Beitragsjahre erreichen. [4] Und schließlich sind Wartezeiten seit jeher ein prägendes Strukturelement des Rentenrechts. Gewichtiger scheint – auf Dauer gesehen – der Umstand, dass Zeiten geringen beitragspflichtigen Verdienstes unabhängig von der zugrundeliegenden Arbeitszeit pauschal aufgestockt werden. Geringer Verdienst ist aber nicht immer gleichzusetzen mit Niedriglohn, so dass für zukünftige Zeiten eine arbeitszeitgewichtete Aufstockung angemessen wäre. [5]
- Und schließlich wird darauf verwiesen, dass man selbst bei maximaler Grundrente (plus 14 EP = 35 Jahre zu 40 Prozent Verdienst) in Regionen mit hohen Unterkunftskosten immer noch im Grundsicherungsbezug verbleibt. – Unter anderem für solche Fälle sieht das BMAS-Konzept in der Grundsicherung einen Freibetrag auf die Rente und im WoGG einen Freibetrag bei Ermittlung des Gesamteinkommens vor. [6]
Regelungen im SGB VI: Wartezeit und Aufstockung
Die im SGB VI vorgeschlagenen Änderungen erinnern sehr stark an die Regelung in § 262 SGB VI zu Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt (Rente nach Mindestentgeltpunkten – RnMEP) bzw. deren – materiell sowie bezüglich des Adressatenkreises stark modifizierte – Folgeregelung in § 70 Absatz 3a SGB VI (Entgeltpunkte für Zeiten der Kindererziehung oder der Kinderpflege). So sieht etwa die RnMEP eine Erhöhung des Entgeltpunkte-Durchschnitts der vor 1992 liegenden vollwertigen Pflichtbeiträge um 50 Prozent auf maximal 75 Prozent des Durchschnittsentgelts vor; Zugangsvoraussetzung für die RnMEP sind insgesamt 35 Jahre an (allen) rentenrechtlichen Zeiten sowie ein Durchschnitt aus allen (auch nach 1991 liegenden) vollwertigen Pflichtbeiträgen von unter 75 Prozent des Durchschnittsentgelts. – Für nach 1991 liegende Zeiten der Kindererziehung oder der Kinderpflege werden nach § 70 Absatz 3a SGB VI Entgeltpunkte zusätzlich ermittelt (für Pflichtbeitragszeiten während der Kinderberücksichtigungszeit) oder gutgeschrieben (bei gleichzeitiger Erziehung mehrerer Kinder bzw. der Pflege eines pflegebedürftigen Kindes unter 18 Jahre). Zugangsvoraussetzung sind insgesamt 25 Jahre an (allen) rentenrechtlichen Zeiten. Die Summe der zusätzlich ermittelten bzw. gutgeschriebenen EP ist zusammen mit den für Beitragszeiten und Kindererziehungszeiten ermittelten EP auf 100 Prozent des Durchschnittsentgelts begrenzt.
Dem BMAS-Konzept zufolge sollen zur Erfüllung der 35-jährigen Wartezeit Beitragszeiten, Kinderberücksichtigungszeiten sowie Zeiten ehrenamtlicher Pflege anerkannt werden. Welche Zeiten genau zu den Beitragszeiten zählen sollen, ist derzeit noch nicht ersichtlich. Offen ist auch, welche Beitragszeiten der Ermittlung der durchschnittlichen Entgeltpunkte pro Jahr zugrunde gelegt werden sollen – alle Beitragszeiten, nur Pflichtbeitragszeiten (auch solche mit Bezug von Lohnersatzleistungen) oder nur vollwertige Pflichtbeitragszeiten, also unter Ausschluss beitragsgeminderter Zeiten? – Die folgenden Ausführungen basieren auf einer engen Interpretation im Sinne vollwertiger Pflichtbeitragszeiten.
Beträgt der Durchschnitt an EP während dieser Zeiten mindestens 20 Prozent und weniger als 80 Prozent des Durchschnittsentgelts, erfolgt für maximal 35 Jahre eine Verdoppelung des Durchschnitts auf maximal 80 Prozent – also maximal auf 0,8 EP pro Jahr. 35 Jahre zu einer durchschnittlichen Entgeltposition von 80 Prozent ergeben insgesamt 28 EP. Das entspricht aktuell einer Bruttorente in Höhe von 897 Euro und einem Rentenzahlbetrag von 800 Euro. Die jüngsten Daten des Statistischen Bundesamtes weisen für September 2018 einen durchschnittlichen Bruttobedarf bei der Grundsicherung im Alter außerhalb von Einrichtungen in Höhe von 796 Euro aus. Der begünstigte Personenkreis mit 35 »aufstockungsfähigen« Jahren und einer durchschnittlichen Entgeltposition von mindestens 40 Prozent vor Aufstockung erreicht mit dem Zahlbetrag der aufgestockten Rente punktgenau den durchschnittlichen Grundsicherungsbedarf (0,4 EP/Jahr x 2 = 0,8 EP/Jahr).
Liegen hingegen trotz erfüllter Wartezeit keine 35 »aufstockungsfähige« Jahre vor, kann dieses Ziel nicht erreicht werden. Somit wäre auch eine Verkürzung der Wartezeit für den dadurch zusätzlich begünstigten Personenkreis und bezogen auf dieses Ziel weitgehend unwirksam – ebenso wie die Ausdehnung der Wartezeit auf weitere rentenrechtliche Zeiten (etwa Zeiten schulischer Ausbildung) keine höhere Rentenanwartschaft ergäbe. Und: Eine Entgeltposition von beispielweise 30 Prozent des Durchschnitts führt selbst nach 45 Jahren – davon 35 Jahre mit Aufstockung – nicht zu 28 EP.
Ergänzung des SGB XII: Einkommensfreibetrag auf die gesetzliche Rente
Für diejenigen, die die rentenrechtliche Wartezeitvoraussetzung erfüllen und trotz Aufstockung der Rente Leistungen der Grundsicherung im Alter beziehen, ist bei der Ermittlung des auf den Grundsicherungsbedarf anrechenbaren Einkommens ein Freibetrag vorgesehen. Als anrechnungsfreier Betrag sind 25 Prozent des Rentenzahlbetrags und in der Spitze 25 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 vorgesehen. Im Ergebnis läge das verfügbare Einkommen hilfebedürftiger Grundrentenberechtigter damit um 25 Prozent ihrer Rente und (2019) maximal 106 Euro oberhalb ihres individuellen fürsorgerechtlichen Bedarfs.
Leistungen der Grundsicherung im Alter setzen das Erreichen der Regelaltersgrenze voraus (2019: 65 Jahre und acht Monate – perspektivisch 67 Jahre). Sofern am Ende nicht auch die Grundrenten-Berechtigung an das Erreichen der Regelaltersgrenze gebunden wird, wäre eine entsprechende Freibetragsregelung auch für die Hilfe zum Lebensunterhalt (SGB XII) sowie im Rahmen des SGB II erforderlich.
In seiner Wirkung entspricht der vorgesehene Freibetrag auf die Rente im Rahmen der Alters-Grundsicherung in der Spitze einer Erhöhung des Regelsatzes um ein Viertel (106 Euro) seines aktuellen Betrags. Dies hat Auswirkungen auf die erforderliche Höhe des zur Überwindung der SGB-XII-Schwelle erforderlichen Zahlbetrags der Rente: Infolge des Freibetrags sind zur Deckung des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs nicht mehr 28 EP, sondern 31,6 EP erforderlich; erreicht wird dieser Wert von 80-Prozent-Verdienern nach gut 39 Beitragsjahren. Da die Aufstockung niedriger Beitragszeiten aber auf maximal 35 Jahre begrenzt ist, steigt die zur Zielerreichung erforderliche Anzahl an Beitragsjahren damit – in Abhängigkeit von der individuellen durchschnittlichen Entgeltposition – von (einheitlich) 35 Jahren auf zwischen rund 40 Jahre (bei 0,7 EP/Jahr) bis rund 43 Jahre (bei 0,4 EP/Jahr).
Die gleichzeitige Einführung des Freibetrags in der Alters-Grundsicherung konterkariert also – bezogen auf das Ziel der Vermeidung von Grundsicherungsberechtigung – die Wirkung der Rentenaufstockung und lässt damit auch die Begrenzung der Aufstockung auf maximal 35 Jahre in einem weder sach- noch zielgerechten Licht erscheinen.
Reformen im Rahmen des Wohngeldgesetzes: Einkommensfreibetrag für langjährig versicherte Rentner
Die Höhe des Wohngelds hängt ab von der Anzahl der Personen im Haushalt, der Höhe der Bruttokaltmiete sowie dem Gesamteinkommen des Haushalts. Der dritte Eckpunkt des BMAS-Grundrentenkonzepts sieht – neben der regelmäßigen Anpassung der Miet- und Einkommensgrenzen – bei Erfüllung der 35-jährigen Wartezeit einen neuen Einkommensfreibetrag in Höhe von 125 Euro monatlich vor (1.500 Euro pro Jahr).
Bezieher von Grundsicherung im Alter sind allerdings vom Wohngeldbezug ausgeschlossen; die Kosten der Unterkunft werden hier im Rahmen der örtlichen Angemessenheitsgrenzen von der Grundsicherung übernommen. Erst wenn der (rechnerische) Wohngeldanspruch im Einzelfall den Nettobedarf der Grundsicherung erreicht oder übersteigt, ist eine Grundsicherungsberechtigung ausgeschlossen.
Das Zusammenspiel von Renten-Aufstockung, Freibetrag auf die Rente in der Alters-Grundsicherung sowie zusätzlichem Freibetrag bei der Ermittlung des Gesamteinkommens im Rahmen des Wohngeldgesetzes soll an einem Beispiel veranschaulicht werden. Die Berechnungen basieren auf den für September 2018 veröffentlichten Daten zur Grundsicherung im Alter. Vom durchschnittlichen Bruttobedarf außerhalb von Einrichtungen (796 Euro pro Monat) entfielen demnach 360 Euro auf Kosten für Unterkunft und Heizung; hiervon werden entsprechend der prozentualen Aufteilung der Warmmiete laut letztem Wohngeld- und Mietenbericht 83 Prozent oder 299 Euro als Bruttokaltmiete zugrunde gelegt. [7]
Im Rahmen des Gesamtkonzepts zur Grundrente erhöht der vorgeschlagene Freibetrag im WoGG den Wohngeldanspruch und er erweitert auch den Kreis der Berechtigten; die Anzahl der Fälle, in denen der (rechnerische) Wohngeldanspruch den Nettobedarf der Alters-Grundsicherung erreicht oder übersteigt, nimmt zu. Im angeführten Beispiel trifft dies für durchschnittliche Entgeltpositionen von 40 Prozent und mehr ab insgesamt 33 aufstockungsfähigen Beitragsjahren zu. Zusammen mit einer aufgestockten Rentenanwartschaft von 26,4 EP und dem entsprechenden Wohngeldanspruch liegt das anrechenbare Einkommen oberhalb des Bruttobedarfs der Alters-Grundsicherung. Durchschnittlichen Entgeltpositionen von 30 Prozent und weniger gelingt dies allerdings auch mit 45 aufstockungsfähigen Beitragsjahren nicht; sie können die SGB-XII-Schwelle mit dem anrechenbaren Zahlbetrag ihrer Rente und dem (rechnerisch erhöhten) Wohngeldanspruch nicht erreichen.
Infolge des zusätzlichen Freibetrags in der Alters-Grundsicherung steigt bei gegebenem Bruttobedarf c. p. der Nettobedarf nach SGB XII. Dadurch wird nicht nur die Renten-Aufstockung konterkariert (s.o.), sondern auch die potenzielle Wirkungsbreite des vorgesehenen Einkommensfreibetrags im Rahmen des WoGG. Unter Verzicht auf den Renten-Freibetrag in der Alters-Grundsicherung könnten durchschnittliche Entgeltpositionen von 40 Prozent und mehr bereits mit 26 aufstockungsfähigen Beitragsjahren die SGB-XII-Schwelle überschreiten. Und auch für 30-Prozent-Verdiener wäre dieses Ziel im Beispiel nach 34 »aufstockungsfähigen« Jahren (erstmals) erreichbar.
Schlussbemerkung
Die Aufwertung der Rentenanwartschaften von langjährig versicherten Geringverdienern auf in der Regel 80 Prozent des Durchschnittsentgelts aller Versicherten verzögert den Prozess der systemischen Verschmelzung von Versicherungs- und Fürsorgesystem – sie alleine kann ihn aber nicht stoppen. Dieser Prozess lässt sich festmachen an einer über die vergangenen Jahre kontinuierlich gestiegenen Anzahl von Entgeltpunkten, die erforderlich sind, um alleine mit dem Zahlbetrag der Rente den (durchschnittlichen) Grundsicherungsbedarf im Alter decken zu können.
Ursächlich für niedrige Renten sind im Einzelfall neben – ganz allgemein – fehlenden Versicherungsjahren die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt über die vergangenen Dekaden (bspw. Ausweitung des Niedriglohnsektors, Strukturverschiebungen hin zu (unfreiwilliger) Teilzeitbeschäftigung, Massen- und vor allem Langzeitarbeitslosigkeit) aber auch Verschlechterungen im Leistungsrecht der Rentenversicherung (bspw. ein wegen unterlassener Regelungsentfristung rapider Bedeutungsverlust der RnMEP im Rentenzugang, Abbau bewerteter Anrechnungszeiten, stark reduzierte oder nicht mehr gewährte rentenrechtliche Absicherung von Zeiten der Arbeitslosigkeit). Niedrige (Versicherten-) Renten schlagen sich allerdings nicht unbedingt auch in entsprechend hohen Empfängerzahlen der Grundsicherung im Alter nieder. Bevor die Grundsicherung einspringt dürfen neben einer für sich alleine unzureichenden Rente keine weiteren nennenswerten Einkünfte oder zumutbar verwertbares Vermögen (auch eines evtl. im gemeinsamen Haushalt lebenden Partners) vorhanden sein.
Systemische Verschmelzung meint nicht die quantitative Zunahme des gleichzeitigen Bezugs von Versichertenrente und aufstockender Grundsicherung, wie sie sich aus verschiedenen Erhebungen ableiten lässt. Systemische Verschmelzung stellt auch nicht ab auf den oben angedeuteten Umstand, dass das Sammeln von Entgeltpunkten über die vergangenen Jahrzehnte in bestimmten (Erwerbs-) Lebenssituationen merklich erschwert wurde. Nicht die »Widrigkeiten« beim Erwerb von Anwartschaften, sondern die Bewertung oder relative Entwertung von Anwartschaften, der schleichende Wertverlust »des« Entgeltpunkts im Vergleich zur Entwicklung der Löhne steht im Fokus der systemischen Verschmelzung – also die Folgen der Senkung des Rentenniveaus bei gleichzeitig (über die vergangenen Jahre stetig) steigendem (durchschnittlichen) Bedarf im Rahmen der Alters-Grundsicherung. Der Prozess dieser systemischen Verschmelzung geht einher mit einem zunehmenden Legitimationsverlust der auf Pflichtbeiträgen basierenden gesetzlichen Rentenversicherung. Denn warum, so die naheliegende Frage, sollen ein (womöglich vollzeitnahes) Erwerbsleben lang nicht gerade geringe Pflichtbeiträge entrichtet werden, wenn am Ende nicht wenigstens ein Rentenzahlbetrag zu erwarten ist, der (deutlich) oberhalb des von der vorleistungsunabhängigen Fürsorge garantierten Einkommens liegt? – Und diese Frage stellt sich völlig unabhängig von womöglich vorhandenen weiteren Einkommenszuflüssen im Alter; die Frage spricht ein grundsätzliches – ein systemisches – Problem sozialstaatlicher Gestaltung bezüglich des Verhältnisses von kausal orientiertem Versicherungsprinzip und final orientiertem Fürsorgeprinzip an.
Mit der Aufstockung niedriger Renten zielt das BMAS-Konzept auf die Erhöhung von Anwartschaften. Ohne dauerhafte Korrektur bei der Bewertung von Anwartschaften, also einer nicht nur zeitlich befristeten Stabilisierung, sondern einer Wiederanhebung des Rentenniveaus werden die Wirkungen dieses ansonsten sinnvollen und notwendigen Vorhabens auf Dauer überschaubar bleiben. Die Frage nach der Legitimation der Pflichtversicherung träte einen Schritt in den Hintergrund – vom Tisch wäre sie damit nicht.
Im Gegenteil: Die positiven Wirkungen der vorgeschlagenen Renten-Aufstockung wie auch die Erhöhung der Reichweite des Wohngeldgesetzes werden im BMAS-Modell durch den gleichzeitig geplanten Renten-Freibetrag im Rahmen der Alters-Grundsicherung umgehend wieder konterkariert, der Prozess der systemischen Verschmelzung wird sogar noch einmal forciert.
Und schließlich rückt die Realisierung der seit langem im politischen Raum stehenden Forderung nach Anhebung der Regelbedarfsstufen des SGB XII auf eine existenzsichernde Höhe – und zwar für alle Hilfebedürftigen – mit der Etablierung ständig neuer Freibetragssachverhalte für jeweils begrenzte Personengruppen in immer weitere Ferne. Stattdessen feiert mit der Privilegierung ausgewählter vorleistungsbasierter Einkommen (-steile) in der Grundsicherung [8] die Unterscheidung zwischen bzw. Separierung in »würdige« (Alters-) Arme auf der einen und »unwürdige« (Alters-) Arme auf der anderen Seite fröhliche Urstände.
[1] Ein neuer Aufbruch für Europa - Eine neue Dynamik für Deutschland - Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Wahlperiode v. 07.02.2018, S. 91.
[2] Vgl. Bund-Länder-Sozialpartner-Dialog zur »Grundrente«, Fachlicher Modellvergleich v. 26.01.2019.
[3] BMAS, Eckpunkte einer Grundrente v. 01.02.2019.
[4] Vgl. I. Schäfer, Wie der Plan des Arbeitsministers die Altersarmut verringert, Soziale Sicherheit Nr. 2/2019, S. 82 f.
[5] Einem solchen Vorgehen steht auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeit-geberverbände (BDA) erstaunlicherweise sehr aufgeschlossen gegenüber: »Damit es zu einer zumindest zielgenauen Honorierung von Lebensleistung kommt, sollten daher nicht nur die Jahre der Beitragsleistung berücksichtigt werden, sondern auch der zeitliche Umfang der Leistung, die honoriert werden soll. Dies kann (zumindest für künftige Beitragszeiten) dadurch geschehen, dass die vom Arbeitgeber schon heute an die Sozialversicherungsträger gemeldete Information zur Arbeitszeit berücksichtigt wird.« - Vgl. BDA, Grundrente hätte problematische Ungleichbehandlungen von Versicherten zur Folge - höhere Zielgenauigkeit wäre aber möglich, Stellungnahme zu der im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD vereinbarten Grundrente v. 29.01.2019.
[6] Zahlreich ist auch die Kritik aus dem Wissenschaftsbetrieb. Das mit weitem Abstand bislang »dünnste Brett« bohrte dabei bislang – soweit ersichtlich – das ifo Dresden in einer augenscheinlich von jedweder Kenntnis der einschlägigen Sachverhalte unbelasteten Stellungnahme. Vgl. A. Fanghänel, J. Ragnitz und M. Thum, Grundrente verfehlt selbstgesteckte Ziele, ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e. V., Niederlassung Dresden, 20.02.2019.
[7] Die im Referenten-Entwurf eines Wohngeldstärkungsgesetzes vorgesehenen Änderungen sind im Folgenden noch nicht berücksichtigt.
[8] So der im Rahmen des Betriebsrentenstärkungsgesetzes eingeführte und seit 2018 wirksame Freibetrag für Leistungen aus zusätzlicher Altersvorsorge.