Diffusionsniveau

»Diffusionsniveau«

Ein zusätzlicher Maßstab für die Verteilungsposition der Renten

Johannes Steffen | Mai 2020

Ende März legte die Kommission Verlässlicher Generationenvertrag nach knapp zweijähriger Arbeit ihre Empfehlungen vor. [1] Dort findet sich auch ein bislang kaum kommentierter Vorschlag: Die durch die Rentenversicherung erreichbare Verteilungsposition im Alter soll künftig nicht mehr nur an der Relation von verfügbarer Standardrente zum verfügbaren Durchschnittsentgelt (Rentenniveau) gemessen werden, sondern auch an der Höhe der verfügbaren Standardrente im Verhältnis zum durchschnittlichen Bedarf in der Altersgrundsicherung außerhalb von Einrichtungen (avE). Für Gert G. Wagner, selbst Mitglied der Kommission, wäre die berichtsoffizielle Etablierung eines solchen Indikators ein »Riesenfortschritt«. Begründung: »Angenommen, der Wert sänke auf vielleicht 150 Prozent. Dann wird das ein Politikum sein, und es wird eine Debatte darüber geben, welche Rentenhöhe angemessen ist – selbst dann, wenn die Armutsquote von Rentnern nicht gestiegen sein sollte.« [2]

Während das Rentenniveau [A] die über das Rentensystem realisierbare Verteilungsposition der Renten im Verhältnis zu den Löhnen beschreibt, gibt das rechnerische Verhältnis zwischen Rente und verfügbarem Einkommen bei Bezug von Grundsicherung (GruSi) im Alter [B] Auskunft über den Abstand der Leistung des Rentensystems zum Fürsorgesystem (Abstandsindikator); der Kehrwert ergibt das Diffusionsniveau [C] – ein Maßstab für den Grad der systemischen Verschmelzung von Rente und Grundsicherung, der einen leichter fassbaren Vergleich mit der Entwicklung des Rentenniveaus erlaubt.

[A] Rentenniveau

verfügbare Standardrente / verfügbares Durchschnittsentgelt * 100

[B] Abstandsindikator

verfügbare Standardrente / verfügbares Einkommen bei GruSi-Bezug

[C] Diffusionsniveau

verfügbares Einkommen bei GruSi-Bezug / verfügbare Standardrente * 100

Mit dem Ausweis sowie der Projektion des Diffusionsniveaus im Rahmen der jährlichen Rentenversicherungsberichte ließen sich Stand und Entwicklung der systemischen Verschmelzung von Rente und Grundsicherung veranschaulichen – und zwar unabhängig von der Entwicklung der Anzahl oder des Anteils armer Rentner. Damit könnte die politische wie auch die fachliche Debatte rund um die Fürsorgeresistenz des Rentensystems ein Stück weit objektiviert und aus der argumentativen Umklammerung des gängigen – damit aber nicht unbedingt auch zielführenden – Verweises auf die relativ geringe Grundsicherungsquote von Altersrentnern herausgelöst werden.

Das Diffusionsniveau ist auch weitgehend unabhängig von der Entwicklung des Rentenniveaus. Im laufenden Jahr wird ein exorbitant hoher Anstieg von Kurzarbeit erwartet; in dessen Folge dürfte der Wert im Nenner der Formel [A] deutlich einbrechen – und das ausgewiesene Rentenniveau (nicht dagegen die Rente) wird kurzfristig stark ansteigen. In den vergangenen Wochen wurde die Höhe der diesjährigen Rentenanpassung vor dem Hintergrund der Corana-Krise bereits teilweise als völlig aus der Zeit gefallen kommentiert. Dies dürfte nur ein kleiner Vorgeschmack sein auf die absehbaren Debatten, die durch ein Rentenniveau befeuert werden, das vorübergehend wieder annähernd den Stand der frühen 2000er Jahre erreicht – bei gleichzeitig sinkendem Durchschnittslohn. Hier könnte der Blick auf das Diffusionsniveau und dessen Entwicklung zu einer Versachlichung des absehbaren Diskurses beitragen.

In ihrem Bericht führt die Kommission auch aus: »Mit dem Vergleich von verfügbarer Standardrente und durchschnittlichem Grundsicherungsbedarf soll dabei keineswegs die Aussage getroffen werden, die verfügbare Standardrente sei ausreichend bemessen, solange sie sich oberhalb des durchschnittlichen Grundsicherungsbedarfs bewegt. Im Gegenteil sollte es das Ziel sein, einen angemessenen Abstand (…) aufrechtzuerhalten.« [3]

Wie aber lässt sich ein »angemessener Abstand« definieren? Dieser kann am Ende nur im politischen Aushandlungsprozess bestimmt werden. Pragmatische Gründe sprechen dafür, den Mindestabstand so zu bemessen, dass Erwerbsbiografien mit 45 Beitragsjahren und einer Erwerbseinkommensposition von im Schnitt 75 Prozent des Durchschnittsentgelts nach Anlage 1 zum SGB VI eine verfügbare Altersrente erzielen sollten, die mindestens die Höhe des verfügbaren Einkommens bei Grundsicherungsberechtigung erreicht. 75 Prozent des SGB-VI-Durchschnittsentgelts entsprechen ziemlich genau der Niedriglohnschwelle vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. [4] Auch die Rente nach Mindestentgeltpunkten beinhaltet als Zielgröße die Anhebung der vor 1992 liegenden Zeiten mit niedrigem Arbeitsentgelt auf maximal 75 Prozent des Durchschnittsentgelts aller Versicherten. [5]

Der Kommissions-Vorschlag hebt ab auf den Vergleich der verfügbaren Standardrente mit dem durchschnittlichen Bruttobedarf in der Altersgrundsicherung (Bedarfs-Schwelle). Diese Referenzgröße unterzeichnet allerdings ab kommendem Jahr das Ausmaß der System-Diffusion. Auf die Frage, wie hoch der Zahlbetrag der Rente sein muss, um alleine damit die Leistungsberechtigung für die Alters-Grundsicherung verlassen zu können, kann der Vergleich von verfügbarer Standardrente und durchschnittlichem Bruttobedarf ab 2021 keine zutreffende Antwort mehr geben.

Im Rahmen des geplanten Grundrentengesetzes Grundrentengesetz soll GruSi-Berechtigten bei der Ermittlung ihres anrechenbaren Einkommens ein »Rentenfreibetrag« bis zur Höhe von maximal 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 eingeräumt werden [6] – sofern sie mindestens 33 Jahre an Grundrentenzeiten vorweisen können; eine Voraussetzung, die die auf 45 Beitragsjahre normierte Standarderwerbsbiografie definitionsgemäß erfüllt.

Der maximale Freibetrag entspricht auf der Wertebasis vom Dezember 2019 dem Gegenwert von 7,2 EP [7]. Rechnerisch erreicht wird der Maximalbetrag ab einer (Brutto-) Rente von 473 Euro (100 EUR + 373 € x 0,3 = 212 EUR). Der Durchschnittsverdiener erreicht diese Rentenhöhe nach gut 14 Beitragsjahren – bei einem 75-Prozent-Verdienst sind 19 Beitragsjahre nötig. Das verfügbare Einkommen bei Grundsicherungsbezug liegt damit im Ergebnis um die Hälfte der Regelbedarfsstufe 1 oberhalb des Bruttobedarfs. Die Grundsicherungsberechtigung beschränkt sich bei langjähriger Versicherung künftig also nicht mehr auf Personen mit einem Einkommen unterhalb des Bruttobedarfs – sie reicht ab 2021 um 50 Prozent des »Eckregelsatzes« über den Bruttobedarf hinaus (Berechtigungs-Schwelle). Die Berechtigungs-Schwelle beziffert jenen Euro-Betrag, den die verfügbare Rente erreichen muss, um als Einzelperson und alleine mit der Rente unabhängig von finanzieller Fürsorgeberechtigung leben zu können.

Rentenniveau, Abstandsindikator und Diffusionsniveau
(Stand 12/2019)


Referenzgröße Euro/Monat EP1
(I) Durchschnittlicher Bruttobedarf2 (avE) = Bedarfs-Schwelle 814,00 27,6114
(II) 50% der Regelbedarfsstufe 1 212,00 7,1912
(III) Summe (I) + (II) = Berechtigungs-Schwelle3 1.026,00 34,8025
(IV) verfügbare Standardrente 1.326,63 45,0000
(V) verfügbares Durchschnittsentgelt (lt. SGB VI Anlage 1 nach SV-Beiträgen) 2.599,00 /
[A] Rentenniveau4
Sicherungsniveau nach SV-Beiträgen (IV)/(V)*100 51,0%
[B] Abstandsindikator bezogen auf die …
Bedarfs-Schwelle (IV)/(I) 1,63
Berechtigungs-Schwelle (IV)/(III) 1,29
[B 1] Abstandsindikator unter Wahrung eines »angemessenen Abstands« (75-Prozent-Verdienst) bezogen auf die …
Bedarfs-Schwelle (IV*0,75)/(I) 1,22
Berechtigungs-Schwelle (IV*0,75)/(III) 0,97
[C] Diffusionsniveau bezogen auf die …
Bedarfs-Schwelle (I)/(IV)*100 61,36%
Berechtigungs-Schwelle (III)/(IV)*100 77,34%
[C 1] Diffusionsniveau unter Wahrung eines »angemessenen Abstands« (75-Prozent-Verdienst) bezogen auf die …
Bedarfs-Schwelle (I)/(IV*0,75)*100 81,81%
Berechtigungs-Schwelle (III)/(IV*0,75)*100 103,12%
1 in Entgeltpunkten bzw. Entgeltpunkte-Äquivalenten, 2 Grundsicherung im Alter, 3 vor 2021: fiktiver Wert , 4 auf Basis der Dezember-Werte 2019

Bezogen auf die Bedarfs-Schwelle betrug der »Abstandsindikator« Ende 2019 1,63 oder 163 Prozent. Die verfügbare Standardrente belief sich also auf das 1,63-Fache des durchschnittlichen Bruttobedarfs in der Altersgrundsicherung. – Bei einem »Abstandsindikator« von 1,0 lägen verfügbare Standardrente und verfügbares Einkommen bei Grundsicherungsbezug gleichauf.

Diffusionsniveau

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Maßgeblich für das Ausmaß der systemischen Verschmelzung ist ab 2021 jedoch nicht mehr die Bedarfs-Schwelle, sondern die Berechtigungs-Schwelle. Setzt man die verfügbare Standardrente ins Verhältnis zu der höheren – und für die Zeit vor 2021 lediglich fiktiven – Berechtigungs-Schwelle, so beläuft sich der »Abstandsindikator« auf nur noch 1,29 oder 129 Prozent – und wäre damit längst ein »Politikum« (vgl. oben) geworden.

Soll der neue Verteilungsmaßstab auch die geforderte Angemessenheit des Abstands (unter Bezugnahme auf einen 75-Prozent-Verdienst) in einer einzigen aggregierten Größe ausdrücken (vgl. Tabelle Ziffer B 1 bzw. C 1), so sinkt der »Abstandsindikator« auf 1,22 (bezogen auf die Bedarfs-Schwelle) bzw. auf 0,97 (bezogen auf die Berechtigungs-Schwelle). Der Kehrwert – das »Diffusionsniveau« – steigt auf 81,81 Prozent (bezogen auf die Bedarfs-Schwelle) bzw. auf 103,12 Prozent (bezogen auf die Berechtigungs-Schwelle). Von einem »angemessenen Abstand« beider Sicherungssysteme kann demnach schon heute keine Rede mehr sein.

Die Ergebnisse einer Simulationsrechnung für die Jahre 2003 bis 2019 zeigen: Das Diffusionsniveau ist insgesamt stärker gestiegen als das Rentenniveau gesunken ist. Die Berechtigungs-Schwelle hat demnach – mit Ausnahme der Jahre 2016 bis 2019 – durchweg deutlicher zugelegt als der (verfügbare) aktuelle Rentenwert.

Die Rentenpolitik hat sich mehr und mehr in den Zangengriff einer abnehmenden Lohnbindung der Renten bei einer gleichzeitig steigenden Fürsorgeschwelle manövriert. Nicht nur die Entwicklung des traditionell gebräuchlichen Rentenniveaus sondern mehr noch der von der Rentenkommission empfohlene zusätzliche Maßstab – hier in Form des Diffusionsniveaus dargestellt – sprechen für die Notwendigkeit einer stärkeren Anhebung des aktuellen Rentenwerts als dies im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Anpassungsregeln der Fall ist.

[1] Bericht der Kommission Verlässlicher Generationenvertrag, Band I – Empfehlungen, Berlin, 23.03.2020 mehr.
[2] Ein Mittel gegen »permanenten Frust«, Interview mit Gert G. Wagner, ND v. 25.04.2020 ND.
[3] Bericht der Kommission, a.a.O. S. 70 f..
[4] Die Niedriglohnschwelle liegt nach Definition der OECD bei 2/3 des Medianentgelts aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten. Zu den Werten vgl. BA, Sozial-versicherungspflichtige Bruttoarbeitsentgelte (Jahreszahlen), Nürnberg 2019, Tabelle 15.1.1.
[5] Vgl. § 262 SGB VI SGB VI.
[6] Die geplante Regelung sieht vor, dass die ersten hundert Euro der Bruttorente an-rechnungsfrei bleiben. Vom darüber hinausgehenden Rentenbetrag bleiben 30 Prozent anrechnungsfrei – in der Summe jedoch maximal 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 Grundrentengesetz.
[7] 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 entsprechen 212 Euro – bei einem aktuellen Rentenwert (brutto) 2019 von 33,05 Euro bzw. 29,48 Euro (= Zahlbetrag) entspricht dies 7,1912 Entgeltpunkten.

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