Rentenniveaustabilisierung - kumulierte Kosten bis 2040
493 Milliarden Euro für ein bisschen mehr Rentenniveau?
Johannes Steffen | August 2018
Am 19. August formulierte Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz (SPD) gegenüber der Bild am Sonntag (BamS): »Wir werden darauf bestehen, dass die Bundesregierung ein stabiles Rentenniveau auch in den Zwanziger- und Dreißigerjahren gewährleistet und ein plausibles Finanzierungsmodell vorlegt. Das hat für uns hohe Priorität.« Seither scheint der politische Streit um Finanzierung und Leistungsniveau der Rentenversicherung neu entbrannt. Am 26. August präsentierte die Frankfurter Allgemeine Sontagszeitung (FAS) die vermeintlichen Folgekosten: »Die Vorschläge (…) für ein stabiles Rentenniveau von 48 Prozent kosten unvorstellbare Summen. Bis zum Jahr 2040 müssten dafür 493 Milliarden Euro aufgewendet werden (…) Das haben Berechnungen des renommierten Rentenökonomen Axel Börsch-Supan (…) ergeben.« – Börsch-Supan ist pikanterweise eines von zehn Mitgliedern der von Arbeitsminister Heil eingesetzten unabhängigen Rentenkommission.
Bei den seither in der Öffentlichkeit kursierenden 493 Milliarden Euro handelt es sich um die kumulierte Summe der modellhaft berechneten Mehrkosten eines bis 2040 bei 48 Prozent stabilisierten Rentenniveaus – ein Betrag, der auf den Bauch und nicht auf den Kopf des Publikums zielt. Der Wert ist zudem deflationiert, also um die unterstellte Preissteigerung von 1,5 Prozent pro Jahr bereinigt.
Unter der Annahme, dass die Zusatzkosten ausschließlich über Beiträge zu finanzieren wären – also unter Ausblendung der Zuschüsse des Bundes, die sich zur Zeit zusammen auf ein knappes Viertel der Gesamtausgaben der allgemeinen Rentenversicherung belaufen – entfielen von den 493 Milliarden Euro grob gerechnet jeweils 246,5 Milliarden Euro auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer.
Dem ist bei einer an den Kopf appellierenden Einordnung der 493 Milliarden Euro nun allerdings auch die Entwicklung der beitragspflichtigen Bruttolohn- und -gehaltssumme (BLG-Summe) gegenüberzustellen. Aus den Daten des im November 2016 vom BMAS vorgelegten und im Dezember 2016 aktualisierten Gesamtkonzepts zur Alterssicherung [1] lässt sich deren Höhe ableiten. Danach beläuft sich der (ebenfalls kumulierte und deflationierte) Zuwachs der beitragspflichtigen BLG-Summe bis zum Jahr 2040 auf 4.567 Milliarden Euro. Von dem zunächst »unvorstellbaren« Betrag (493 Mrd. Euro) entfielen jeweils 5,4 Prozent (246,5 Mrd. Euro) des so berechneten Zuwachses der BLG-Summe als Belastung auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Am Ende verflüchtigt sich die anfängliche Horrorzahl auf einen aus heutiger Sicht durchaus verkraftbaren Beitragsanstieg: Denn 2040 läge der Beitragssatz für Arbeitgeber und Arbeitnehmer lediglich um jeweils 1,35 Prozentpunkte höher als nach geltendem Recht – statt 22,9 Prozent betrüge er dann 25,6 Prozent.
Die Entwicklung des Rentenniveaus gibt Auskunft über die systemische Leistungsfähigkeit der allgemeinen Rentenversicherung – also über die Entwicklung des Werts der Rentenanwartschaften im Vergleich zu den Löhnen. Nach geltendem Recht wird das so genannte Sicherungsniveau vor Steuern (SvS) von heute etwa 48,1 Prozent bis 2040 auf rund 42 Prozent sinken. Zusammen mit der seit Anfang des vergangenen Jahrzehnts bis heute bereits umgesetzten Abkoppelung der Renten von den Löhnen läge das Rentenniveau dann um elf Prozentpunkte oder um rund ein Fünftel niedriger als im Jahr 2004 (53,0 Prozent) zu Beginn der politischen Umsetzung des rot-grünen Paradigmenwechsels in der Alterssicherungspolitik.
Im Rahmen des Gesetzes über Leistungsverbesserungen und Stabilisierung in der gesetzlichen Rentenversicherung ist eine Untergrenze für das Rentenniveau auf heutigem Stand bis zum Jahr 2025 vorgesehen. Das könnte ein erster Schritt auf dem Weg zu einer wieder lebensstandardsichernd ausgerichteten gesetzlichen Rente sein. Aber selbst diese marginale Korrektur geht Kritikern einer leistungsfähigen umlagefinanzierten Rente bereits zu weit. Sie zielen mit Horrorszenarien auf öffentliche Verunsicherung und haben als »Alternative« in aller Regel für die ansonsten vermeintlich beitragsüberlastete junge Generation eine weitere Anhebung der Regelaltersgrenze auf 70 Jahre im Angebot. Dieser Streit dürfte in den nächsten Monaten die Rentendiskussion wie auch die Arbeit der Rentenkommission maßgebend prägen. Dass eine lebensstandardsichernde Rente zu geringeren Kosten zu haben wäre als eine durch private oder betriebliche Vorsorge aufzustockende, weil demontierte Rente, bleibt bei der öffentlichen Debatte regelmäßig ausgeblendet.
[1] BMAS, Gesamtkonzept zur Alterssicherung, Berlin, November 2016