Reaktivierung des Nachholfaktors

Viel Lärm um nichts?

Reaktivierung des Nachholfaktors bei der Rentenanpassung

Johannes Steffen | Juni 2020

Die FDP-Fraktion fordert die Reaktivierung des ausgesetzten Nachholfaktors bei der Rentenanpassung. [1] Mit dem Faktor werden Kürzungen des aktuellen Rentenwerts (AR), die sich auf Basis der Anpassungsformel (etwa infolge sinkender Pro-Kopf-Löhne) ergeben, aufgrund der allgemeinen Schutzklausel aber ausgeschlossen sind, bei später positiven Anpassungssätzen nachgeholt; künftige Erhöhungen des AR werden also gemindert. Im Zusammenhang mit der Garantie eines Rentenniveaus von 48 Prozent bis 2025 wurde der Nachholfaktor deaktiviert – nicht heimlich und im Verborgenen, wie einige Diskutanten seit Wochen behaupten, sondern offen und bewusst, um zu verhindern, dass die Niveaugarantie im Nachhinein (teilweise) wieder »einkassiert« wird. Genau darauf aber zielt der FDP-Antrag am Ende offenbar.

Wenn die Renten bei einem Pandemie-bedingten Rückgang der Pro-Kopf-Löhne »verschont« blieben, so hieße dies aus Sicht der FDP, »die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler müssten finanzieren, dass die Renten langfristig stärker steigen als die Löhne«. – Diese Einschätzung beruht womöglich auf grundlegenden Verständnislücken der Anpassungsmechanik.


Tabelle 1: Annahmen der Modellrechnung – Angaben in Prozent
Jahr BEVGR (1) bBEDRV (1) RV-BS (2) BA-BS KV-ZBS
2019 2,9 3,0 18,6 2,5 0,9
2020 -0,9 1,4 18,6 2,4 1,1
2021 3,8 1,9 18,6 2,4 1,2
2022 2,9 2,5 18,6 2,4 1,4
2023 3,0 3,0 18,7 2,6 1,5
2024 3,0 3,0 20,0 2,6 1,5
2025 3,0 3,0 20,0 2,6 1,5
2026 / / 20,8 2,6 1,5
Σ20-24 (3) 11,8 11,8 / / /
(1) Veränderung ggü. Vorjahr, (2) untere Lohnvariante sowie niedrige Beschäftigungsentwcklung, (3) Veränderung 2020 bis 2024. – Der allgemeine Beitragssatz (BS) zur KV liegt durchgehend bei 14,6%, der zur PV bei 3,05%. Der Nachhaltigkeitsfaktor wird (vereinfachend) aus dem letzten Rentenversicherungsbericht (RVB) übernommen.
Quelle: DRV Bund, RVB 2019

Mittel- und langfristig folgen die Renten dem beitragspflichtigen Entgelt wie es sich aus der Versichertenstatistik der Deutschen Rentenversicherung Bund ergibt (bBEDRV). Davon zu unterscheiden sind die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer nach der Systematik der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (BEVGR). Diese werden jeweils im März des Anpassungsjahres vom Statistischen Bundesamt für das Vorjahr sowie für das vorvergangene Jahr ermittelt, um die Renten möglichst zeitnah an der Lohnentwicklung teilhaben zu lassen; das durchschnittliche beitragspflichtige Versichertenentgelt liegt nämlich immer erst mit einer zeitlichen Verzögerung von rund einem Jahr vor. Hat sich das BEVGR schwächer oder stärker entwickelt als das bBEDRV, so wird dies bei der folgenden Anpassung über einen Wichtefaktor entsprechend korrigiert. So ist garantiert, dass sich die Fortschreibung der Renten am Ende stets an der Entwicklung der Versichertenentgelte orientiert.

Die Folgen der Corona-Pandemie für Löhne und Beschäftigung sowie für Rentenanpassung und Rentenniveau lassen sich modellieren. Den folgenden Berechnungen liegt die Annahme eines V-förmigen Krisenverlaufs zugrunde: Nach dem mittlerweile erreichten Tiefpunkt kehren Wachstum und Beschäftigung wieder weitgehend zurück auf den Vor-Chorona-Pfad (vgl. Tabelle 1).


Tabelle 2: Aktueller Rentenwert und Rentenniveau in Prozent
Jahr AR (Veränderung ggü. Vorjahr) Rentenniveau (SvS) in Prozent
  geltendes Recht Mit aktiviertem Nachholfaktor (1) … und Niveau-Garantie (2) geltendes Recht Mit aktiviertem Nachholfaktor (1) … und Niveau-Garantie (2)
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]
2020 / / / 48,2 48,2 48,2
2021 0,0 0,0 0,0 48,6 48,6 48,6
2022 5,8 5,0 5,0 48,4 48,0 48,0
2023 0,9 0,8 0,9 48,4 48,1 48,1
2024 2,3 2,3 2,3 48,7 48,3 48,3
2025 1,5 0,9 2,3 48,0 47,3 48,0
2026 2,5 2,5 2,5 48,0 47,3 48,0
Σ21-25 (3) 10,5 9,0 10,5 / / /
(1) Ohne Niveau-Garantie, (2) FDP-Antrag, (3) Anstieg in den Jahren 2021 bis 2025

Reaktivierung des Nachholfaktors

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Anders als der FDP-Antrag suggeriert ist der Rückgang der Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer (BEVGR) im laufenden Jahr nicht gleichbedeutend mit einem entsprechenden Rückgang auch des durchschnittlichen beitragspflichtigen Entgelts (bBEDRV). Im Gegenteil: Den Annahmen der Deutschen Rentenversicherung zufolge steigt das bBEDRV 2020 weiter – wenn auch verhaltener als ohne Corona-Krise (vgl. Tabelle 1). Kurzarbeit schlägt bei den Versichertenentgelten weit weniger stark zu Buche als beim BEVGR. Der Grund: Bei Kurzarbeit zählen 80 Prozent der Differenz zwischen Soll- und Ist-Entgelt zum beitragspflichtigen Lohn. Wechseln also fünf Durchschnittsverdiener in Kurzarbeit Null, so gehen in das durchschnittliche VGR-Entgelt fünf Köpfe mit einem Bruttolohn von Null ein – beim Versichertenentgelt hingegen fehlt nur das Lohn-Äquivalent für einen Durchschnittsverdiener (fünf mal 20 Prozent).

Und: Auch bei Reaktivierung des Nachholfaktors ist die Niveau-Garantie noch nicht außer Kraft gesetzt – ansonsten fiele das Rentenniveau unter 48 Prozent (vgl. Tabelle 2 [6]). Die aus den eingangs referierten Annahmen resultierende Kürzung des AR in 2021 um 0,8 Prozent, die 2022 nachzuholen wäre (vgl. Tabelle 2 [3]), würde 2025 durch die Niveau-Garantie wieder ausgeglichen. Am Ende liegt der aktuelle Rentenwert nach geltendem Recht mit dem nach FDP-Antrag ab 2025 gleichauf. Auch von einem gegenüber den Löhnen langfristig stärkeren Anstieg des AR kann keine Rede sein (vgl. Tabelle 1 und 2). – Einzig in den Jahren 2022 bis 2024 lägen AR und Rentenniveau bei Umsetzung des FDP-Antrags kurzzeitig niedriger als nach geltendem Recht.

[1] FDP-Antrag, Corona-Krise generationengerecht überwinden – Nachholfaktor in der Rentenformel wiedereinführen, BTDrs 19/20195 v. 18.06.2020. mehr

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