Schreckgespenst Demografie

Schreckgespenst Demografie

Rente mit 74 und Kündigung des Generationenvertrages?

Johannes Steffen | Mai 2015

Die Bevölkerung schrumpft und wird älter. Keine wirkliche Neuigkeit, die da Ende April aus Wiesbaden kam. Aber die Berechnungen der Statistiker befeuern regelmäßig jene, die Demografie und Ökonomie in eins setzen, um anschließend die kollektive Organisation sozialer Sicherung als unfinanzierbaren Luxus zu disqualifizieren.

Nach der 13. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung des Statistischen Bundesamtes lautet ein Modell-Szenario wie folgt [1]: Die Bevölkerung Deutschlands schrumpft von 80,8 Millionen Personen (2013) auf 67,6 Millionen Personen im Jahr 2060. Der Bevölkerungsrückgang geht einher mit einer Verschiebung des Altersaufbaus: Die Anzahl junger Menschen unter 20 Jahren sinkt von 14,7 Millionen auf nur noch 10,9 Millionen, die der Älteren ab 65 Jahren [ab 67 Jahren] [2] aufwärts steigt von 16,8 [15,1] Millionen auf 22,3 [20,6] Millionen. Und schließlich sinkt die Anzahl der Personen im mittleren Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren von 49,3 [51,0] Millionen auf 34,3 [36,1] Millionen.

 

Damit steigt der sogenannte »Altenquotient« – das zahlenmäßige Verhältnis der Älteren ab 65 [67] Jahren zu den Menschen im Alter von 20 bis unter 65 [67] Jahren – von 34 [30] im Jahr 2013 auf 65 [57] im Jahr 2060; während heute auf 100 Personen im mittleren Alter 34 [30] Personen im Alter von 65 [67] Jahren und mehr entfallen, verschlechtert sich diese Relation bis 2060 auf 100 zu 65 [57]. Das entspricht einer Steigerung des »Altenquotienten« um 90 [92] Prozent.

In Teilen der Öffentlichkeit werden aus diesen Ergebnissen beeindruckend schlichte Rückschlüsse gezogen auf eine ökonomisch vermeintlich untragbare Belastung sowie (dadurch scheinbar legitimiert) die Unabwendbarkeit eines weiteren Abbaus sozialpolitischer Standards. So meint etwa DIE WELT: »Nur die Rente mit 74 kann Deutschland noch helfen« [3] und die Thüringische Landeszeitung verlangt forsch: »Kinder müssen Generationenvertrag kündigen« [4]. – Da lohnt ein genauerer Blick auf die Zusammenhänge:

  • Zunächst einmal müssen von der mittleren Altersgruppe nicht nur die Älteren, sondern auch die Jüngeren ökonomisch geschultert werden. Stellt man in Rechnung, dass sich auch der »Jugendquotient« leicht von 30 [29] Prozent auf 32 [30] Prozent erhöht, so fällt der Anstieg des »Gesamtquotienten« (A) – also die Summe der Altersgruppe unter 20 Jahren und der ab 65 [67] Jahren im Verhältnis zur mittleren Altersgruppe – bis zum Jahr 2060 von heute 64 [59] auf dann 97 [87] schon deutlich geringer aus. Der ursprüngliche Zuwachs hat sich damit auf 51 [49] Prozent fast halbiert.
  • Die mittlere Altersgruppe muss aber nicht nur die Jüngeren und die Älteren »tragen«, sondern selbstverständlich auch sich selbst; ökonomisch hat sie die Reproduktion der gesamten Bevölkerung sicher zu stellen. Unter diesem Aspekt – zahlenmäßiges Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Bevölkerung mittleren Alters – steigt der »Gesamtquotient« (B) von 164 [159] auf 197 [187] oder um nur noch 20 [18] Prozent. Der rechnerische Anstieg schrumpft noch einmal um mehr als die Hälfte.
  • Schließlich sind nicht alle Personen im erwerbsfähigen Alter auch tatsächlich erwerbstätig. Ökonomisch entscheidender ist daher der »Gesamtquotient« (C) – das zahlenmäßige Verhältnis der Gesamtbevölkerung zur Anzahl der Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe. Nimmt man sehr zurückhaltend an, dass sich die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe – also der Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung – bis 2060 um fünf Prozentpunkte erhöht [5], so reduziert sich der Zuwachs weiter auf 13 [9] Prozent.

Belastungs-Quotienten

Der vermeintlich untragbare »Belastungsanstieg« von anfänglich 90 [92] Prozent (»Altenquotient«) reduziert sich am Ende auf gerade noch 13 [9] Prozent (Gesamtquotient C). Entfielen 2013 auf jeden Erwerbstätigen der mittleren Altersgruppe (einschließlich seiner selbst) 2,0 Köpfe der Gesamtbevölkerung, so wären es im Jahr 2060 2,3 [2,2] Köpfe. – Und: Bei einem weiteren Anstieg der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde von im Durchschnitt 1,4 Prozent jährlich [6] steigt die Leistung pro Erwerbstätigen bis 2060 um fast 100 Prozent. Davon können alle Generationen gleichermaßen profitieren – sofern die Verteilung »stimmt«.

 

[1] Variante 1: Kontinuität bei schwächerer Zuwanderung. Zu den Varianten und deren Annahmen vgl. Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Wiesbaden 2015, S. 13 f.
[2] Die Angaben in den rechteckigen Klammern erweitern den Kreis der mittleren Altersgruppe wegen der Anhebung der Regelaltersgrenze (seit 2012) auf 67 Jahre (ab Jahrgang 1964) um zwei Jahre.
[3] DIE WELT, Online-Ausgabe v. 28.04.2015.
[4] Thüringische Landeszeitung v. 29.04.2015.
[5] Alleine von 2005 auf 2013 hat sich die Erwerbstätigenquote der mittleren Altersgruppe lt. Mikrozensus um fast sieben Prozentpunkte erhöht.
[6] Der Wert entspricht dem durchschnittlichen Zuwachs der Stundenproduktivität von 1992 bis 2014.

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