Arbeitslosigkeit und Rente
Wie umgehen mit Arbeitslosigkeit bei der Rente?
Forderung nach Beiträgen wegen ALG-II-Bezugs überzeugt nicht
Johannes Steffen | September 2019
Seit rund zehn Jahren zählt die (Wieder-) Einführung von Rentenbeiträgen für Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) zu den sozialpolitischen Standardforderungen von Gewerkschaften, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie der Partei DIE LINKE. Der Bund soll Beiträge zur Rentenversicherung auf Basis des halben Durchschnittsentgelts aller Versicherten entrichten. Ein Jahr ALG-II-Bezug ergäbe dann eine einheitliche Rentenanwartschaft in Höhe von 0,5 Entgeltpunkten (EP) – und nicht nur, wie zuletzt (2010), von lediglich rund 0,08 EP. So plausibel die Forderung auf den ersten Blick erscheinen mag, so unausgegoren erweist sie sich auf den zweiten Blick. Es gibt eine überzeugendere Lösung zur rentenrechtlichen Absicherung von (Langzeit-) Arbeitslosen – und die ist in Teilen für eine kleine Personengruppe arbeitsloser ALG-II-Bezieher schon heute geltendes Recht.
Je nach zeitlicher Lage wirken sich Zeiten der Arbeitslosigkeit sehr unterschiedlich auf die Rentenanwartschaften aus [1]. Derzeit entrichtet die BA bei Bezug von Arbeitslosengeld (ALG) Beiträge zur Rentenversicherung auf Basis von 80 Prozent des Bemessungsentgelts (vereinfacht: letztes Bruttoentgelt). Damit erwerben Durchschnittsverdiener während eines Jahres Arbeitslosigkeit mit ALG-Bezug 0,8 EP. Zeiten nach Ende des ALG-Bezugs – grundsätzlich nach zwölf Monaten, bei älteren Arbeitslosen nach 15 bis 24 Monaten – haben den Status unbewerteter Anrechnungszeiten; dies gilt seit 2011 auch für Zeiten des ALG-II-Bezugs, die zudem einen eigenständigen Anrechnungszeit-Tatbestand bilden, der eine gleichzeitige Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit ausschließt. Zusätzliche EP werden in beiden Fällen nicht erworben. Anrechnungszeiten schließen allerdings ansonsten entstehende Versicherungslücken und erhöhen damit den Gesamtleistungswert für die Bewertung anderer beitragsfreier oder beitragsgeminderter Zeiten – so etwa den Wert der Zurechnungszeit bei Erwerbsminderungsrenten.
Bei Bezug von ALG II wurden vom Bund anfangs Rentenbeiträge auf Basis von 400 Euro monatlich, von 2007 bis 2010 auf Basis von 205 Euro entrichtet. Nennenswerte Anwartschaften waren damit nicht zu erwerben – und zudem führen niedrige vollwertige Beitragszeiten häufig zur Senkung des Gesamtleistungswerts und damit zu einer schlechteren Bewertung beispielsweise der Zurechnungszeit. Derart negative Folgen wären auch bei einer Beitragszahlung auf Basis des hälftigen Durchschnittsentgelts (2019 sind dies 1.620 Euro pro Monat) nicht gänzlich vom Tisch.
Darüber hinaus sprechen weitere Punkte gegen die landläufige Forderung:
- Auslöser der Beitragszahlung wäre nicht Arbeitslosigkeit sondern Hilfebedürftigkeit (ALG-II-Bezug). 2018 war nur gut ein Drittel aller ALG-II-Empfänger auch arbeitslos.
- Hilfebedürftigkeit (genauer: Leistungsberechtigung) wird zudem von einer ganzen Reihe exogener Faktoren beeinflusst. Zu nennen sind vor allem
- die Höhe der stark differierenden Unterkunftskosten,
- die Größe der Bedarfsgemeinschaft,
- das anrechenbare Einkommen und/oder Vermögen,
- die Aufteilung eventuellen Erwerbseinkommens in Paarhaushalten (was Auswirkungen auf die Höhe des anrechnungsfreien Erwerbseinkommens hat) und schließlich
- die jeweilige Ausgestaltung vorgelagerter Sozialtransfers wie Wohngeld, Kindergeld und Kinderzuschlag.
- Durch die (Wieder-) Einführung von Beitragszahlungen können immer nur künftige Zeiten erreicht werden und nicht auch zurückliegende Zeiten der Arbeitslosigkeit.
- Von allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erzielten Ende 2018 über sieben Millionen Personen oder 22 Prozent ein Bruttoentgelt unterhalb des halben Durchschnittsentgelts. Eine jährliche Rentenanwartschaft von 0,5 EP könnten sie nur bei gleichzeitiger Hilfebedürftigkeit erreichen. Ähnliches gilt für ALG-Empfänger, deren vormaliges Bruttoentgelt geringer war als 62,5 Prozent des Durchschnittsentgelts; die Bemessungsgrundlage ihrer Rentenbeiträge (0,8 x 62,5) läge niedriger als bei ALG-II-Bezug. – Und auch nicht hilfebedürftige Arbeitslose ohne ALG-Bezug gingen grundsätzlich leer aus.
Am Ende erwerben mit der »Beitrags-Variante« nicht arbeitslose Hilfebedürftige höhere Anwartschaften als nicht hilfebedürftige Arbeitslose bzw. Beschäftigte mit geringem Verdienst. – Dabei gäbe es eine zielgenauere Alternative.
Liegt bei Arbeitslosigkeit vor Vollendung des 25. Lebensjahres
- Versicherungspflicht wegen des Bezugs von Sozialleistungen (etwa ALG) vor oder wird
- während der Arbeitslosigkeit ALG II bezogen,
so gelten diese Zeiten gegenwärtig (auch) als Anrechnungszeiten wegen Arbeitslosigkeit. Als beitragsgeminderte (a) bzw. beitragsfreie (b) Zeiten unterliegen sie damit der (auf 80 Prozent) begrenzten Gesamtleistungsbewertung. Vereinfacht heißt dies: Bei Versicherten ohne rentenrechtliche Lücken werden besagte Zeiten mit 80 Prozent der im Durchschnitt des Erwerbslebens erzielten Entgeltposition bewertet. Liegt diese am Ende beispielsweise bei 1,0 (= Durchschnittsverdienst), so wäre ein Jahr Arbeitslosigkeit vor vollendetem 25. Lebensjahr mit (im Fall (a) mindestens) 0,8 EP zu bewerten. Diese Regelung ließe sich auf alle Altersgruppen ausdehnen – und auch Arbeitslose, die nur mangels Bedürftigkeit keine Sozialleistungen erhalten, könnten einbezogen werden. Entscheidend für die Bewertung von Zeiten der Arbeitslosigkeit wären damit die individuelle Entgeltposition sowie die Nähe bzw. Ferne zur Rentenversicherung (Umfang rentenrechtlicher Lücken). Auch zurückliegende Zeiten der Arbeitslosigkeit ließen sich über diesen Weg einbeziehen. – Gründe genug, die Forderung nach Absicherung von (Langzeit-) Arbeitslosigkeit in der Rente konzeptionell zu überdenken.