Das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit
Daten und Erläuterungen vor dem Hintergrund des geplanten Bürgergeld-Gesetzes
Das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit
Johannes Steffen | Oktober 2022
Mitte September passierte der Entwurf eines Bürgergeld-Gesetzes das Bundeskabinett und wurde unmittelbar danach ins parlamentarische Verfahren eingebracht. [1] Die seitherige Kritik am Entwurf lässt sich vereinfachend in zwei Lager aufteilen: Den Betroffenen-Organisationen, Sozial- und Wohlfahrtsverbänden wie auch Gewerkschaften geht v.a. die Fortschreibung der Regelsätze zum 01.01.2023 (laut SGB XII Regelbedarfsstufen) nicht weit genug; gefordert wird eine deutlich stärkere Anhebung. – Ein anderes, recht bunt und argumentativ »turbulent« bestücktes Lager, sieht das genau anders und beklagt zudem, dass Hilfebedürftige den Planungen zufolge kaum noch gefordert seien; es fehle die »harte Hand« des fördernden Sozialstaats (Stichwort: Sanktionen). Seine Zuspitzung findet die Argumentation dieses Lagers häufig in der seither wieder verstärkt vorgetragenen Behauptung, dass sich Arbeit vor dem Hintergrund des neuen Bürgergeldes nicht mehr lohne. Vor allem in den »Sozialen Medien« kursieren diverse Beispiele, die dies belegen oder nahelegen sollen. Das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit ist Gegenstand der folgenden Ausführungen.
Relevante Regelungen des Bürgergeld-Gesetzes
Die wesentlichen Inhalte des Gesetzentwurfs wurden bereits an anderer Stelle aufbereitet. [2] Hier werden lediglich die für das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit bedeutsamen Punkte noch einmal kurz referiert.
Regelbedarf: Zum 1. Januar 2023 steigen die Regelsätze um zwischen 11,6 und 11,9 Prozent. Hierbei wird die Basisfortschreibung nach bisherigem Recht – der zufolge die Regelsätze um zwischen 4,4 und 4,6 Prozent zu erhöhen sind – um eine neue, ergänzende Fortschreibung erweitert; dadurch soll die Regelsatzfortschreibung zeitnäher die Preisentwicklung spiegeln. – Ein Erfordernis, dem der Normgeber im Übrigen auch ohne Bürgergeld-Gesetz im Rahmen der an dessen Stelle zu erlassenden Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung 2023 politisch hätte Rechnung tragen müssen. Will sagen: Die Erhöhung der Regelsätze zum 01.01.2023 auf die in der Tabelle ausgewiesenen Beträge ist politisch nicht dem Bürgergeld-Gesetz geschuldet.
Karenzzeit: Während der ersten zwei Jahre des Leis-tungsbezugs (= Karenzzeit) werden die Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkannt. Erst nach Ablauf der Karenzzeit erfolgt eine Prüfung der Kosten auf ihre Angemessenheit. Ab dann gilt (wie bisher) eine Kostensenkungsfrist von in der Regel bis zu sechs Monaten. – Vermögen wird innerhalb der Karenzzeit nur berücksichtigt, wenn es in der Summe 60.000 Euro für die leistungsberechtigte Person sowie 30.000 Euro für jedes weitere Mitglied der Bedarfsgemeinschaft (BG) übersteigt. Die Beträge entsprechen den während der Geltung der Regelungen zum erleichterten Zugang zu den Grundsicherungssystemen aus Anlass der COVID-19-Pandemie maßgebenden Werten – es handelt sich insofern also nicht um eine Erhöhung der Schonvermögensbeträge. Außerhalb der Karenzzeit ist von dem zu berücksichtigenden Vermögen für jede Person in der BG ein Betrag in Höhe von 15.000 Euro abzusetzen. [3]
Freibetragsregelung: Ab Juli 2023 werden die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit neu strukturiert und differenzierter gestaltet. Mit der Neugestaltung soll der Fokus stärker als bisher darauf liegen, Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit zu setzen. Der anrechnungsfreie Absetzbetrag beläuft sich für den Teil des monatlichen Erwerbseinkommens,
- der 100 Euro (Grundabsetzbetrag) übersteigt und nicht mehr als 520 Euro (= Minijob-Grenze) beträgt, auf 20 Prozent,
- der 520 Euro übersteigt und nicht mehr als 1.000 Euro beträgt, auf 30 Prozent und
- der 1.000 Euro übersteigt und nicht mehr als 1.200 Euro (Erwerbstätige mit minderjährigem Kind: 1.500 Euro) beträgt, auf 10 Prozent.
Der maximal absetzbare Erwerbstätigen-Freibetrag beträgt damit für Erwerbstätige ohne Kind 348 Euro im Monat (bisher: 300 Euro) und für Erwerbstätige mit Kind 378 Euro pro Monat (bisher: 330 Euro).
Sanktionen: Während einer sechsmonatigen Vertrauenszeit führt die Verletzung von Pflichten künftig nicht mehr zu Sanktionen; dies gilt auch für ein erstmaliges Meldeversäumnis. Ansonsten mindert sich bei einer Pflichtverletzung das Bürgergeld um 20 Prozent des jeweils maßgebenden Regelbedarfs – bei jeder weiteren Pflichtverletzung um 30 Prozent. Meldeversäumnisse führen für den Zeitraum von einem Monat zu 10 Prozent Regelsatzminderung. Leistungsminderungen durch wiederholte Pflichtverletzungen oder Meldeversäumnisse sind auf insgesamt 30 Prozent der maßgebenden Regelbedarfsstufe begrenzt. Die sich rechnerisch ergebenden Zahlbeträge für die Kosten der Unterkunft dürfen durch eine Leistungsminderung nicht verringert werden; damit ist bspw. bei erwerbstätigen Bürgergeld-Aufstockern die Minderung auf einen etwaigen Rest-Anspruch für die Regelbedarfsdeckung begrenzt. [4]
Grundsätzliches
Leistungen nach SGB II sind subsidiär – also nachrangig. Sie werden nur unter der Voraussetzung gewährt, dass Bedürftigkeit vorliegt. Bedürftigkeit liegt (vereinfachend) vor, sofern der Bedarf aller in einer BG lebenden Personen nicht aus deren anrechenbaren (Gesamt-) Einkommen bzw. Vermögen gedeckt werden kann.
Der Bedarf setzt sich typischerweise zusammen aus
- den (angemessenen) Kosten für Unterkunft und Heizung,
- dem nach Regelsätzen bemessenen Regelbedarf der Mitglieder der BG sowie
- einem evtl. Mehrbedarf (v.a. für Alleinerziehende).
Dem Bedarf ist das anrechenbare Einkommen bzw. Vermögen der Mitglieder der BG gegenüberzustellen. Zum anrechenbaren Einkommen [5] zählen im vorliegenden Zusammenhang hauptsächlich
- das erzielte Nettoarbeitsentgelt – abzüglich des Freibetrags bei Erwerbstätigkeit (E-FB) sowie
- vorrangige Sozialtransfers wie v.a.
- Wohngeld (Wog),
- Kindergeld (KiG),
- Kinderzuschlag (KiZ) sowie
- Unterhalts(vorschuss)-Leistungen (UHV) bei Alleinerziehenden-BGs.
Nur wenn das anrechenbare Einkommen der BG unterhalb des BG-Bedarfs liegt erfolgt eine Aufstockung durch ALG II / Sozialgeld bzw. künftig Bürgergeld. Aufgrund des nicht zum anrechenbaren Einkommen zählenden Erwerbstätigen-Freibetrags liegt das verfügbare Einkommen bei Erwerbstätigkeit also immer – unabhängig von den zugrunde gelegten Einzelbedarfen – um mindestens den Freibetrag oberhalb des verfügbaren Einkommens eines nicht erwerbstätigen Bürgergeld-Haushalts. Alle Rechenbeispiele, die etwas anderes belegen oder nahelegen wollen, sind Unsinn.
Während der Regelbedarf durch den Typ der BG (Single, Paar, Alleinerziehend) sowie Anzahl und Alter der Kinder vorgegeben ist, schwankt der KdU-Bedarf (Warmmiete) bei gleichem BG-Typ zwischen den Regionen und selbst innerhalb einer Region teilweise erheblich. Zur Orientierung in der Debatte weist die folgende Tabelle die aktuellen bundesdurchschnittlichen Beträge für Wohnkosten (Miete) nach BG-Typ aus (Stand Juni 2022).
Die gröbsten Irrtümer
Das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit wird durchgängig mit unkorrekten Vergleichen »belegt«. Völlig ignoriert werden dabei die derzeit noch geltenden wie auch die künftig neu gestalteten Regelungen zum Erwerbstätigen-Freibetrag. Alleine deren Berücksichtigung ließe das Narrativ bereits im Ansatz in sich zusammenfallen. Daneben lassen sich die gröbsten Fehler beim Vergleich wie folgt sortieren:
- Verglichen wird der Anspruch auf Bürgergeld bzw. der Gesamtbedarf eines Haushalts alleine mit dem Nettolohn aus einer niedrig entlohnten Beschäftigung.
- Beim Erwerbstätigen-Haushalt werden die Ansprüche auf die dem Bürgergeld vorgelagerten Sozialtransfers wie Wohngeld, Kindergeld, Kinderzuschlag oder Unterhalts(vorschuss)-Leistungen nicht oder nicht vollständig berücksichtigt.
- Und selbst der aufstockende Anspruch auf Bürgergeld bei niedrigem Lohn wird in aller Regel ausgeblendet. Verglichen wird damit im Ergebnis ein nicht erwerbstätiger Bürgergeld-Empfänger mit einem erwerbstätigen Hilfebedürftigen, der seinen Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld nicht geltend macht.
Beispiele
Aus der Vielzahl der gegenwärtig kursierenden Berechnungs-Beispiele, mit denen das Narrativ von der nicht lohnenden Arbeit illustriert wird, werden im Folgenden einige besonders markante Exemplare herausgegriffen und einer »Gegen-Rechnung« unterzogen. Grundlage sind hierbei die ab 2023 geltenden sozial- und steuerrechtlichen Regelungen, die teilweise noch der Bestätigung durch den Normgeber (Gesetz, Verordnung) bedürfen. [6]
Beispiel 1
Am 12. September veröffentlichte die Rheinische Post ein Interview mit Handwerks-Präsident Hans Peter Wollseifer; dort las man u.a.:
Frage: Was halten Sie vom Bürgergeld-Konzept der Regierung, das Arbeitsminister Heil verantwortet?
Wollseifer: Langzeitarbeitslose brauchen Unterstützung, um wieder in Arbeit zu kommen. Das gewährleistet das Bürgergeld-Konzept nicht ausreichend, daher finden wir es nicht gut. Denn es sorgt für Demotivation bei denjenigen, die mit einem geringen Gehalt regulär arbeiten. Am unteren Ende verschwimmen die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und dem Bürgergeld. Viele fragen sich, warum soll ich morgens um 7 Uhr schon arbeiten, wenn derjenige, der das Bürgergeld bezieht, fast das Gleiche bekommt. Die Verbesserungen für die Bezieher beim Schonvermögen, der Wegfall von Sanktionen, die deutliche Anhebung des Regelsatzes, die komplette Übernahme der stark gestiegenen Heizkosten – all das wird dazu führen, dass sich für mehr Menschen als bisher das Nicht-Arbeiten mehr lohnt als das Arbeiten.
Tags darauf griff BILD.de [7] Wollseifers Aussagen auf und garnierte sie mit folgendem Rechenbeispiel.
BILD.de vergleicht also den Regelbedarf einer vierköpfigen Familie (1.598 €) alleine mit dem Nettolohn des Familienvaters – und kommt dabei immerhin noch auf ein Plus für Letzteren von 369,12 Euro. Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld gibt es für den Haushalt augenscheinlich nicht.
Da zu den Wohnkosten keine Angaben gemacht werden, greift die »Gegen-Rechnung« auf die durchschnittlichen tatsächlichen KdU für den BG-Typ (Paar mit zwei Kindern) im Land Berlin zurück (Stand Juni 2022). Der Bedarf setzt sich dann wie folgt zusammen:
Für den Haushalt des Malers ergibt sich verglichen damit 2023 das folgende verfügbare Einkommen:
Unter Einbeziehung der Ansprüche auf Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld erzielt der Haushalt des erwerbstätigen Malers ein verfügbares Einkommen, das 1.018 Euro oberhalb des Bürgergeld-Anspruchs bei Nicht-Erwerbstätigkeit liegt. [8] Gegenüber dem Rechenbeispiel von BILD.de ist dies ein Plus von 649 Euro.
Auch ein in den Sozialen Medien häufig geteilter Leserbrief [9] wirft so einige Dinge durcheinander.
Wieder wird ein Familien-Haushalt mit zwei Kindern – diesmal im Alter von sechs und 14 Jahren – angeführt; bei dem Alleinverdiener handelt es sich (wie schon im ersten Beispiel) um einen Maler, wohnhaft im Landkreis Traunstein (Oberbayern). Obwohl der Maler besser entlohnt wird als im ersten Beispiel, steht sich der Erwerbstätigen-Haushalt der Schilderung zufolge um 158 Euro monatlich schlechter als der Bürgergeld-Haushalt ohne Erwerbstätigkeit. Der rechnerische Betrag fiele allerdings geringer aus, wenn die Regelbedarfe korrekt beziffert wären.
Denn im Paar-Haushalt ist zweimal die Regelbedarfsstufe 2 (451 €) maßgebend – und nicht einmal die RS 1 (502 €) und einmal die RS 2 (451 €); der Elternbedarf wird also um 51 € zu hoch angesetzt. Andererseits steht dem 6-jährigen Kind (= 7. Lebensjahr) die RS 5 zu (348 €) und nicht die RS 6 (318 €); der Bedarf wird um 30 € zu gering angesetzt. Unterm Strich wird die Regelbedarfssumme im geschilderten Beispiel um 21 € zu hoch ausgewiesen.
Beim Erwerbstätigen-Haushalt werden im Leserbrief-Beispiel weder ein Anspruch auf Wohngeld [10] noch auf Kinderzuschlag berücksichtigt. Die »Gegen-Rechnung« weist für den Haushalt des Malers das folgende verfügbare Einkommen in 2023 aus:
Die vierköpfige Familie des Malers kommt demnach auf ein um 796 Euro höheres verfügbares Einkommen als der vergleichbare nicht erwerbstätige Bürgergeld-Haushalt. Der Unterschied zwischen Leserbrief-Beispiel (158 € we-niger) und »Gegen-Rechnung« (796 € mehr) beläuft sich auf 954 €. [11]
An dieser Stelle sei noch auf folgendes Detail hingewiesen: Für die Berechnung der Höhe des Wohngeldes kann die Bruttokaltmiete wegen der maßgeblichen Mietobergrenze nur zu rd. 84 Prozent berücksichtigt werden – was den Wohngeldanspruch kappt. Anders dagegen beim Kinderzuschlag. Für den bei dessen Berechnung u.a. maßgeblichen Elternbedarf gemäß SGB II werden die tatsächlichen KdU, also die Bruttokaltmiete von 800 Euro plus Heizkosten, berücksichtigt. Denn während der Karenzzeit (vgl. oben Relevante Regelungen des Bürgergeld-Gesetzes) findet keine Angemessenheitsprüfung der KdU statt. Die Angemessenheit orientiert sich üblicherweise an der Mietobergrenze nach dem Wohngeldgesetz. Im Ergebnis fällt der Kinderzuschlag dadurch um knapp 90 Euro höher aus als bei Durchführung der Angemessenheitsprüfung. Auf diese Weise profitiert auch der oberbayrische Maler-Haushalt mit einer »unangemessen« hohen Bruttokaltmiete von der geplanten Karenzzeit-Regelung des Bürgergeld-Gesetzes.
Beispiel 3
Haushalte von Alleinerziehenden machen den Nachvollzug von Beispiel-Rechnungen zu einer besonderen Herausforderung. Vergessen wird hier regelmäßig v.a. die Berücksichtigung von Unterhaltsvorschussleistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz. – Dazu ein Beispiel, dass besonders im rechten politischen Umfeld gerne gepostet wird.
Es handelt sich um den Haushalt einer nicht erwerbstätigen Alleinerziehenden mit zwei Kindern im Alter zwischen sechs und 13 Jahren mit einer Regelbedarfssumme von 1.198 Euro. Dem gegenübergestellt wird ein identischer Haushalt einer Einzelhandelskauffrau mit 2.000 Euro Bruttolohn. Der Haushalt der erwerbstätigen Alleinerziehenden verfügt augenscheinlich über 223 Euro weniger als der nicht erwerbstätige Bürgergeld-Haushalt.
Schaut man genauer hin, so fallen eine Reihe Fehler auf. Zunächst zur Bedarfsberechnung für den Bürgergeld-Haushalt. Mit zwei Kindern unter 16 Jahren [12] hat die Alleinerziehende neben ihrem Regelbedarf (502 €) einen Mehrbedarf von 180,72 Euro. Miete und Energiekosten müssen bei einem sinnvollen Vergleich mit denen der Einzelhandelskauffrau übereinstimmen – vereinfachend nehmen wir für die »Gegen-Rechnung« also 1.000 Euro KdU (davon 500 Euro Bruttokaltmiete) an. Damit beläuft sich der Gesamtbedarf des Bürgergeld-Haushalts auf 2.379 Euro.
Demgegenüber kommt der Haushalt der erwerbstätigen Alleinerziehende jedoch auf ein verfügbares Einkommen von 3.029 Euro.
Damit liegt sie um 650 Euro oberhalb des Gesamtbedarfs des vergleichbaren Nichterwerbstätigen-Haushalts. Die Spanne zwischen Narrativ (223 Euro weniger) und »Gegen-Rechnung« (650 Euro mehr) beträgt also 873 Euro. [13]
Beispiel 4
Das vierte Beispiel handelt von einem 26-jährigen, zum gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro vollzeitbeschäftigten und kirchensteuerpflichtigen Single (Wohnort München).
Der Rechnung zufolge liegt er mit seinem Nettolohn rd. 56 Euro unterhalb des Bürgergeld-Anspruchs. Etwas kurios kommt die Auflistung der Wohnkosten (Warmmiete plus Heizkosten) daher, die zu einem KdU-Bedarf von 1.034 Euro führt und somit zu einem Gesamtbedarf von 1.536 Euro. Nur während der Karenzzeit können diese hohen KdU vollständig übernommen werden.
Aus seinem Bruttolohn von gerundet 2.080 Euro resultiert den Annahmen zufolge in 2023 ein monatlicher Nettolohn von 1.494 Euro. [14]
Auch zusammen mit dem rechnerisch zustehenden Anspruch auf Wohngeld könnte der Single die Hilfebedürftigkeit nicht überwinden. Er hat daher Anspruch auf aufstockendes Bürgergeld; sein verfügbares Einkommen liegt am Ende um den für ihn ab Juli 2023 maßgebenden Erwerbstätigen-Freibetrag (348 €) oberhalb seines Gesamtbedarfs.
Bei extrem hohen Unterkunftskosten reicht natürlich alleine der gesetzliche Mindestlohn bei Vollzeit – auch zusammen mit einem evtl. Wohngeldanspruch – nicht für die Überwindung der Hilfebedürftigkeit aus. Dennoch lohnt sich Arbeit auch in einem solchen Fall.
Beispiel 5
Vergleiche von nicht erwerbstätigen Bürgergeld-Empfängern mit Erwerbstätigen, die auf ihren aufstockenden Bürgergeld-Anspruch verzichten, sind augenscheinlich höchst »beliebt« – und weit verbreitet. Die solchen Vergleichen zugrundeliegenden Haushaltsstrukturen und Kostensituationen sind dabei eher nebensächlich: Wer in einer vergleichbaren Lebenslage auf Leistungsansprüche verzichtet hat in aller Regel immer ein geringeres Einkommen zur Verfügung als derjenige, der seine Rechtsansprüche geltend macht; ein trivialer Befund, der dennoch gehörige Verwirrung auszulösen vermag.
Der im Beispiel angeführte alleinstehende Bürgergeld-Empfänger mit einer »deutschen Durchschnittsmiete« (?) kommt den Annahmen zufolge auf einen Gesamtbedarf von 1.747 Euro.
Dem steht ein in vergleichbaren Verhältnissen lebender Arbeitnehmer mit einem Bruttolohn von 2.520 Euro gegenüber. Da bei dieser Bruttolohnhöhe kein Anspruch mehr auf Wohngeld realisiert werden kann bleibt an verfügbarem Einkommen alleine der Nettolohn von 1.762 Euro. [15]
Damit liegt er zwar oberhalb seines Gesamtbedarfs von 1.747 Euro; weil von seinem Nettolohn aber noch der anrechnungsfreie Erwerbstätigen-Freibetrag abzuziehen ist hat er im Ergebnis Anspruch auf 333 Euro aufstockendes Bürgergeld. Sein verfügbares Einkommen liegt 348 Euro höher als bei Nicht-Erwerbstätigkeit – und nicht etwa um lediglich einen Euro, wie das gepostete Beispiel behauptet.
Beispiel 6
Schließlich wird auch gerne bemängelt, dass der anrechnungsfreie Hinzuverdienst im SGB II zu restriktiv geregelt sei – vereinfachend formuliert: Vom selbst verdienten Geld müsse mehr übrig bleiben, folglich sei der anrechnungsfreie Hinzuverdienst auszuweiten. – Ausgeblendet wird bei einer solchen Forderung aber meist, dass jede Anhebung des anrechnungsfreien Hinzuverdienstes automatisch den Kreis der Leistungsberechtigten erweitert.
Im Beispiel wird die Einkommenssituation eines Bürgergeld-Empfängers mit Minijob einem Vollzeitbeschäftigten gegenübergestellt. Beide kommen am Ende (angeblich) auf den gleichen Einkommensbetrag – nur dass der Minijobber dafür 37 Stunden monatlich arbeiten muss, der Vollzeitbeschäftigte hingegen 160 Stunden, also gut viermal so viel wie der Minijobber mit Bürgergeld.
Die Bedarfs- und Einkommenssituation des Bürgergeldempfängers mit Minijob [16] stellt sich bei korrekter Rechnung wie folgt dar:
Wie das aus der Schweriner Volkszeitung (SVZ) stammende Beispiel bei einem Minijob auf einen anrechnungsfreien Betrag von 280 € kommt, kann hier nicht beantwortet werden; selbst nach der Neuregelung ab Juli 2023 sind es maximal 184 Euro. Zudem wird der Regelbedarf des Alleinstehenden mit 500 Euro um zwei Euro zu niedrig angesetzt. – Bei korrekten Daten liegt das verfügbare Einkommen des Alleinstehenden mit Minijob im Ergebnis 184 Euro oberhalb seines Bedarfs.
Als Vollzeitbeschäftigter kommt der Single zusammen mit seinem Wohngeld-Anspruch auf ein verfügbares Einkommen von 1.552 Euro.
Damit liegt er 420 Euro oberhalb seines Bedarfs und 236 Euro oberhalb des Vergleichs-Haushalts mit einem Minijob von 520 Euro. Auch in diesem Fall lohnt sich Vollzeitbeschäftigung gegenüber dem Bürgergeldbezug mit Minijob.
Anders lautende Aufmacher in manchen Magazinen geben allenfalls politische Meinungen wieder – mit den geplanten Neuregelungen durch das Bürgergel-Gesetz haben sie nicht viel zu tun. Ein aktuelles Beispiel lieferte der FOCUS in seiner online-Ausgabe vom 9. Oktober.
Breit zitiert wird eine Jobcenter-Mitarbeiterin (Pseudonym Martha Berger) u.a. mit folgenden, teilweise redaktionell flankierten Passagen. Vor dem Hintergrund der zuvor analysierten Beispiele spricht der Text für sich und bedarf keiner weiteren Kommentierung.
[1] Entwurf eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze - Einführung eines Bürgergeldes (Bürgergeld-Gesetz), BRDrs 456/22 v. 16.09.2022 .
[2] Portal Sozialpolitik, Übersicht zu den wesentlichen Änderungen des Bürgergeld-Gesetzes .
[3] Die Karenzzeit-Regelungen zielen – wie schon die Vorgängerregelung anlässlich der COVID-Pandemie – hauptsächlich auf neu in die Hilfebedürftigkeit fallende Mittelschicht-Haushalte (Arbeitnehmer, Solo-Selbständige, Kulturschaffende etc.). Der Bestand an Hilfebedürftigen, für den die Regelungen ebenfalls gelten, hat seine KdU bzw. sein Vermögen idR bereits bis auf die Angemessenheitsgrenze bzw. auf die zuvor geltenden Schonvermögensbeträge reduziert (sofern sie nicht von der Vorgängerregelung erfasst wurden).
[4] Wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass erwerbstätige Aufstocker von Sanktionen ohnehin so gut wie nicht betroffen sind.
[5] Eventuell anrechenbares Vermögen bleibt im Folgenden unberücksichtigt..
[6] Dies betrifft die Beitragssätze zur SV, die hier mit folgenden v.H.-Werten angesetzt werden: RV 18,6%, BA 2,6%, KV 14,6%, KV-Z 1,5%, PV 3,05% und PV-ZB 0,35%, die Ausweitung des Übergangsbereichs (Midijobs) auf Entgelte bis 2.000 Euro, den geplanten ESt-Tarif 2023 sowie sonstige steuerliche Regelungen lt. Entwurf eines InflAusG, die Erhöhung des Kindergeldes sowie des Höchstbetrages beim Kinderzuschlag und die geplanten Leistungsverbesserungen durch den Entwurf des Wohngeld-Plus-Gesetzes.
[7] Hartz-Irrsinn - Wer arbeitet, ist künftig der Dumme
[8] Beide Haushalte haben zudem Anspruch auf den Sofortzuschlag von 20 Euro pro Kind und Monat. Bei dem Zuschlag handelt es sich um eine zusätzliche Leistung bei Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende bzw. Kinderzuschlag.
[9] Die Quelle des Leserbriefes konnte bislang nicht ermittelt werden.
[10] Für den Landkreis Traunstein weist die Wohngeldverordnung die Mietenstufe II aus mit einer Obergrenze für die berücksichtigungsfähige Kaltmiete (4-P-HH) von 641 €; hinzu kommt die Klimakomponente lt. Wog-Plus-Gesetz von 34,40 €. Damit wird die Bruttokaltmiete von angegeben 800 € bei der Ermittlung der Wog-Höhe nur zu rd. 84% berücksichtigt.
[11] Beide Haushalte haben zudem Anspruch auf den Sofortzuschlag von 20 Euro pro Kind und Monat. Bei dem Zuschlag handelt es sich um eine zusätzliche Leistung bei Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende bzw. Kinderzuschlag.
[12] Dies ergibt sich aus der Höhe des für den Bürgergeld-Haushalt ausgewiesenen »Kindergeldes« von 696 Euro.
[13] Beide Haushalte haben zudem Anspruch auf den Sofortzuschlag von 20 Euro pro Kind und Monat. Bei dem Zuschlag handelt es sich um eine zusätzliche Leistung bei Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende bzw. Kinderzuschlag.
[14] Das gepostete Beispiel rechnet mit den Abgabesätzen 2022 und kommt daher zu einem geringeren Nettobetrag.
[15] Das gepostete Beispiel rechnet mit den Abgabesätzen 2022 und kommt daher zu höheren Abzügen.
[16] Unterstellt wird eine opt-out-Entscheidung bezüglich der Versicherungspflicht zur Rentenversicherung – daher Brutto = Netto.