Arm durch mehr Arbeit?
»Wer mehr arbeitet, hat weniger Geld«
Mit vermeintlich lebensnahem Beispiel gegen den Sozialstaat
Johannes Steffen | März 2018
Nachdem der Nachweis, Hartz IV lohne sich oft mehr als Arbeit, kläglich gescheitert war , versuchte es die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) am vergangenen Wochenende anders herum: »Wer mehr arbeitet, hat weniger Geld: Genau so funktioniert heute leider oft unser Sozialstaat.« [1] – Zum Beleg wartet Dietrich Creutzburg diesmal mit einem nach eigenem Dafürhalten lebensnahen Beispiel auf – und liegt doch wieder daneben.
Der Wirtschaftskorrespondent der FAZ stützt sich dabei auf eine Veröffentlichung des IAB der BA [2]. Dort wird die mangelnde Abstimmung im Rahmen des Steuer-Transfer-Systems problematisiert: Da mit steigendem Bruttolohn Ansprüche etwa auf Kinderzuschlag oder Wohngeld abgeschmolzen werden, kann diese Transferentzugsrate zusammen mit steigenden Abgaben (Steuern und Beiträge) im Extremfall zu einem sinkenden Nettoeinkommen führen.
Das von der FAZ zitierte Beispiel lautet verkürzt so: Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern erzielt einen Bruttolohn von 1.700 Euro – zusammen mit Kindergeld, Kinderzuschlag und Wohngeld kommt die Familie auf ein Netto-Haushaltseinkommen von 2.187 Euro. Schafft es die Alleinerziehende, ihren Bruttolohn um 800 Euro auf 2.500 Euro zu steigern, etwa durch eine höhere Stundenzahl und/oder bessere Vergütung, so verliert sie den Anspruch auf Wohngeld und Kinderzuschlag. Ihr gesamtes Einkommen beträgt dann nur noch 2.070 Euro im Monat – und damit spürbar weniger als bei einem Bruttolohn von 1.700 Euro. »Tatsächlich löst für die Alleinerziehende jede Lohnerhöhung oberhalb von 1.700 Euro eine Einkommenskürzung aus. Erst mit mehr als 2.750 Euro Bruttolohn erreicht sie netto wieder die anfänglichen 2.187 Euro.« Für Dietrich Creutzburg ein Beleg dafür, »wie sehr der Sozialstaat heute Menschen das Leben von eigener Arbeit und eigenem Einkommen erschwert«.
Nun hat das lebensnahe Beispiel der FAZ allerdings nichts zu tun mit dem Leben im Jahr 2018. Die Modellrechnungen der IAB-Autoren beruhen auf einem inzwischen überholten Rechtsstand. Auf dessen Basis konnte bei der Alleinerziehenden mit zwei Kindern im Alter zwischen acht und zwölf Jahren methodisch plausibel davon ausgegangen werden, dass die seinerzeitige Höchstbezugsdauer von 72 Monaten für Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz bereits ausgeschöpft war. Mit der Mitte vergangenen Jahres in Kraft getretenen Reform des Unterhaltsvorschusses sind die Befunde aber nicht mehr aktuell. Das ist der FAZ ganz offensichtlich entgangen.
Seit dem 1. Juli 2017 gilt:
- Bis zur Vollendung des zwölften Lebensjahres (12. Geburtstag) können Kinder ohne zeitliche Einschränkung Unterhaltsvorschuss erhalten. Die bisher gültige Höchstbezugsdauer von 72 Monaten entfällt.
- Kinder im Alter von zwölf Jahren bis zum vollendeten 18. Lebensjahr können ebenfalls Unterhaltsvorschuss erhalten. Voraussetzung dafür ist, dass sie nicht auf Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) angewiesen sind oder dass der alleinerziehende Elternteil im SGB II-Bezug mindestens 600 Euro brutto verdient.
Dies hat für den Verlauf des verfügbaren Einkommens im Fall der zitierten Alleinerziehenden ganz entscheidende Auswirkungen. Denn ihre beiden Kinder im Alter von acht und zwölf Jahren haben jetzt durchgehend Anspruch auf Unterhaltsvorschuss in Höhe von 205 bzw. 273 Euro. Die Leistung gilt allerdings als Einkommen des Kindes – und das mindert einen eventuellen Kinderzuschlag im vorliegenden Beispiel in voller Höhe. Faktisch wird damit ein mit steigendem Elterneinkommen sinkender Sozialtransfer (Kinderzuschlag von maximal 170 Euro pro Kind) ersetzt durch einen Transfer, dessen Betrag nicht nur höher ausfällt, sondern der auch keinerlei Einkommensgrenzen kennt. Anders als der Kinderzuschlag wird der Unterhaltsvorschuss bei steigendem Einkommen der Mutter nicht gekürzt – oder anders: Beim Unterhaltsvorschuss beträgt die Transferentzugsrate Null.
Greifen wir das Beispiel der IAB-Autoren auf [3] und passen es dem aktuellen Rechtsstand an, zeigt sich ein gegenüber der FAZ-Schilderung völlig anderes Bild: Bis zu einem monatlichen Bruttoverdienst von knapp 1.600 Euro bleibt der Haushalt leistungsberechtigt nach SGB II (Grafik). Das verfügbare Einkommen setzt sich zusammen aus dem nach SGB II anrechenbaren Nettolohn, Kindergeld und Unterhaltsvorschuss. Die Differenz zum Gesamtbedarf von 1.801 Euro wird durch SGB-II-Leistungen aufgestockt. Hinzu kommt der von der Anrechnung auf den Bedarf ausgenommene Freibetrag wegen Erwerbstätigkeit, der mit steigendem Brutto (bis 1.500 Euro) leicht steigt. – Mit einem Bruttolohn von 1.600 Euro entfällt der Hartz-IV-Anspruch. Das Haushaltseinkommen speist sich von da an aus Nettolohn, Kindergeld, Unterhaltsvorschuss und einem geringen Anspruch auf Wohngeld.
Ab einem Bruttogehalt von rund 1.720 Euro entfällt auch der Wohngeldanspruch; als unmittelbare Folge sinkt das verfügbare Einkommen des Haushalts kurzfristig um bis zu rund zehn Euro – über eine Brutto-Einkommensstrecke von knapp 20 Euro. Von der in der FAZ skandalisierten Einkommensreduzierung durch ein Mehr an Arbeit – genauer mehr Lohn – über ein Bruttoentgelt-Intervall von mehr als 1.000 Euro kann also nicht im Entferntesten die Rede sein.
[1] Dietrich Creutzburg, Sozialstaat-Kommentar: Arm durch Arbeit, FAZ v. 24.03.2018
[2] Vgl. Kerstin Bruckmeier, Jannek Mühlhan, Andreas Peichl, Mehr Arbeitsanreize für einkommensschwache Familien schaffen v. 24.01.2018
[3] Lediglich die Warmmiete, die dort mit 510 Euro sehr niedrig angesetzt ist, wurde auf 643 Euro angehoben; vgl. hierzu BMAS, Grundsicherung für Arbeitsuchende. Sozialgesetzbuch SGB II, Fragen und Antworten, Bonn 2018, S. 101.