»Kein Anreiz, in Arbeit zu gehen«
»Kein Anreiz, in Arbeit zu gehen« - Schon Hetze oder bloß Dummheit?
04.10.2023 | Vergangenen Freitag war Joachim Walter (CDU), Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg, zu Gast bei SWR 1. Auf die Frage: »Vielleicht können Sie uns beispielhaft mal sagen: Eine vierköpfige Familie zum Beispiel aus der Ukraine erhält welche Leistungen?« machte Walter seine eigenwillige Rechnung für Tübingen mit Stand Januar 2024 auf (vgl. Spalte 2 bzw. ab Min. 21:50). Dass Ehegatten jeweils beide die Regelbedarfsstufe (RS) 2 erhalten, also jeweils 506 Euro, und nicht etwa einmal die RS 1 und einmal die RS 2 kann man noch als Versehen abhaken. Der Gesamtbedarf der vierköpfige Familie beträgt im vorgetragenen Fall also nicht 3.213,90 Euro sondern 3.156,90 Euro (vgl. Spalte 3).
Walters Fazit: »Eine vergleichbare Familie müsste 3.200 Euro bis 3.500 Euro Netto nach Hause bringen. Da ist natürlich kein Anreiz da, in Arbeit zu gehen.« - Diese Aussage ist zumindest grob fahrlässig. Das erforderliche Nettoentgelt zur Überwindung der SGB-II-Leistungsberechtigung ist bei einem Alleinverdiener-Haushalt mit 1.604,90 Euro gerade einmal halb so hoch, wie Walter behauptet. Wie so oft werden Sozialtransfers, die dem Erwerbstätigen-Haushalt zustehen (Kindergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag), bei dem Vergleich völlig ausgeblendet. Zudem liegt das verfügbare Einkommen des Erwerbstätigen-Haushalts bei einem Bruttolohn von 2.012,42 Euro (was 2024 einer vollzeitnahen Beschäftigung zum Mindestlohn von 12,41 Euro entspricht) und damit gerade überwundener SGB-II-Leistungsberechtigung deutlich oberhalb des verfügbaren Einkommens des SGB-II-Haushalts.
SGB-II-Leistungen für eine 4-köpfige Familie im Vergleich zum erforderlichen Lohn bei Erwerbstätigkeit
Bürgergeld | Erwerbstätigkeit | |||
J. Walter (CDU) | korrekte Werte | |||
[1] | [2] | [3] | [4] | [5] |
Regelsatz Haushaltsvorstand | 563,00 EUR | 506,00 EUR | Bruttolohn | 2.012,42 EUR |
Regelsatz Ehegatte | 506,00 EUR | 506,00 EUR | ./. Lohnsteuer | 0,00 EUR |
Regelsatz Kind (14 Jahre) | 471,00 EUR | 471,00 EUR | ./. SV-Beiträge (1) | 407,52 EUR |
Regelsatz Kind (12 Jahre) | 390,00 EUR | 390,00 EUR | = Nettolohn | 1.604,90 EUR |
Regelbedarfe zusammen | 1.930,00 EUR | 1.873,00 EUR | + Kindergeld | 500,00 EUR |
Netto-Kaltmiete | 959,00 EUR | 959,00 EUR | + Wohngeld | 930,00 EUR |
Betriebskosten | 195,30 EUR | 195,30 EUR | + Kinderzuschlag | 500,00 EUR |
Brutto-Kaltmiete | 1.154,30 EUR | 1.154,30 EUR | ./. Erwerbstätigen-Freibetrag | 378,00 EUR |
Heizkosten | 129,60 EUR | 129,60 EUR | = anrechenbares Einkommen | 3.156,90 EUR |
Kosten der Unterkunft zusammen (2) | 1.283,90 EUR | 1.283,90 EUR | + Erwerbstätigen-Freibetrag | 378,00 EUR |
SGB-II-Bedarf insgesamt | 3.213,90 EUR | 3.156,90 EUR | = verfügbares Einkommen | 3.534,90 EUR |
Sofortzuschlag 20 EUR/Kind (3) | 40,00 EUR | |||
verfügbares Einkommen | 3.196,90 EUR | |||
(1) Bei einem unterstellten Zusatzbeitrag zur KV von 1,8%. (2) Die durchschnittliche Warmmiete einer 4-köpfgen Familie im SGB-II-Bezug liegt derzeit bei gut 830 Euro. (3) Beiden Haushalten stehen zudem Leistungen nach dem Bildungs- und Teilhabepaket zu. |