Rentenversicherungsbericht 2021
Rentenversicherungsbericht 2021
Gesamtversorgungsniveau: Mehr Erklärungsbedarf als Erkenntnisgewinn
Johannes Steffen | November 2021
Alle Jahre wieder erweckt die Bundesregierung in ihrem Rentenversicherungsbericht den Eindruck, die unter Rot-Grün zu Beginn des Jahrhunderts eingeleitete drastische Senkung des Rentenniveaus könne durch staatlich geförderte Privatvorsorge (»Riester«-Rente) aufgefangen werden. Wer die staatliche Förderung seit 2002 ohne Unterbrechung und voll ausschöpft, komme zusammen mit der gesetzlichen Rente auch weiterhin annähernd auf ein Gesamtversorgungsniveau, wie es zuvor alleine durch die gesetzliche Rente gewährleistet wurde - also rund 53 Prozent (Sicherungsniveau vor Steuern).
In den Erläuterungen zur einschlägigen Übersicht B 8 des Berichts heißt es: »Das gesamte Versorgungsniveau aus Sicherungsniveau vor Steuern einschließlich einer Riester-Rente liegt über den gesamten Vorausberechnungszeitraum der Rentenzugänge zwischen gut 53% und knapp 55%.« – Was wird damit ausgesagt, was soll damit ausgesagt werden? Bleibt der Paradigmenwechsel für all diejenigen weitgehend folgenlos (zumindest auf der Leistungsseite und »im Durchschnitt«), die sich seit 2002 streng an den Ratschlag des Gesetzgebers gehalten haben und weiterhin halten werden? – Nein. Die zitierte Aussage des Rentenversicherungsberichts hat keinen Erkenntniswert – die ab 2021 ausgewiesenen erhöhten SvS-Werte sind statistischen Sondereffekten geschuldet; einige diese Effekte wirken nur kurzfristig (wie etwa das Zusammenspiel von ausgesetztem Nachholfaktor und Auswirkungen der COVID-19-Pandemie), andere haben dagegen langfristige Auswirkungen (Revision der beitragspflichtigen Entgelte). – Unter'm Strich geht es auch auf Basis der aktuellen Modellrechnungen langfristig bergab mit dem Gesamtversorgungsniveau.
Lesehilfe
Beispiel Rentenzugangsjahr 2010: Im Zugangsjahr beträgt das SvS der gesetzlichen Rente 51,6 Prozent. Aus der Riester-Rente kommen 1,3 Punkte hinzu, so dass sich das Gesamtversorgungsniveau auf 52,9 Prozent beläuft. Ist diese Rente im Jahr 2035 noch im Bestand, so erreicht sie nur noch ein SvS von 44,9 Prozent - auch die Riester-Rente steuert nur noch 1,1 Punkte bei und das Gesamtversorgungsniveau sinkt auf 46,0 Prozent. Der Niveauverlust beträgt nach 25 Jahren Rentenbezugszeit 6,9 Punkte. Von einer Aufrechterhaltung des Sicherungsniveaus (auch für den Rentenbestand) kann also keine Rede sein.
Sondereffekte erhöhen das Rentenniveau (SvS)
- Die durch das RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetz bis einschließlich 2025 eingeführte Haltelinie beim Rentenniveau (48%) verschiebt im Zusammenspiel mit dem ebenfalls bis 2025 ausgesetzten Nachholfaktor den Kurvenverlauf des SvS leicht nach oben und damit den Prozesss der weiteren Niveauabsenkung nach rechts – es handelt sich sozusagen um eine »Atempause« beim Sinkflug des Rentenniveaus.
- Infolge umfangreicher Kurzarbeit sind die Bruttolöhne und -gehälter je Arbeitnehmer 2020 gesunken. Alleine schon aus diesem Grund fiel die rechnerische Rentenanpassung 2021 negativ aus. Zusätzlich wirkte die Revision der beitragspflichtigen Entgelte negativ auf die rechnerische Anpassung. Wegen der allgemeinen Schutzklausel blieb der aktuelle Rentenwert (AR) 2021 im Ergebnis unverändert (Nullrunde). Da der Nachholfaktor für die Dauer der gesetzlichen Haltelinie (2019 - 2025) ausgesetzt ist, werden rechnerische Kürzungen des AR, die sich bis 2025 ergeben, auch nicht mit (später) positiven Anpassungssätzen verrechnet; die Aussetzung des Nachholfaktors wirkt bis 2025 wie ein Sperrklinkeneffekt. Die im Jahr 2021 nahezu unveränderte verfügbare Standardrente steht allerdings einem sinkenden (weil mit der negativen Lohnänderungsrate des Vorjahres fortgeschriebenen) verfügbaren Durchschnittsentgelt gegenüber – folglich steigt das Rentenniveau. Im Folgejahr (2022) legen die Renten voraussichtlich deutlich zu – annahmegemäß steigt allerdings auch das verfügbare Durchschnittsentgelt, sodass das SvS konstant bleibt. – 2023 weisen die Modellrechnungen einen starken Anstieg des SvS aus. Der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt im Umfang von gut zwei Prozentpunkten anpassungserhöhend. Bei der Berechnung der Äquivalenzbeitragszahler für den Nachhaltigkeitsfaktor ist auf das vorläufige Durchschnittsentgelt zurückzugreifen. Dieses wird mit der doppelten (negativen) Lohnänderungsrate des Vorvorjahres bestimmt. Die Lohnminderung des Jahres 2020 wirkt so zeitverzögert um ein Vielfaches verstärkt nach. Ein Effekt der jedoch nicht von Dauer ist; schon 2024 schlägt das Pendel in die andere Richtung und der Nachhaltigkeitsfaktor wirkt in nahezu gleichem Umfang anpassungsdämpfend (erneute Nullrunde).
- Von dauerhafter Wirkung ist hingegen der Revisionseffekt bei den beitragspflichtigen Entgelten. [1] Infolge des Flexirentengesetzes von 2017 sind seither auch Bezieher einer vorgezogenen Altersvollrente in einer evtl. Beschäftigung versicherungspflichtig; Bezieher einer Vollrente ab der Regelaltersgrenze können auf die Versicherungsfreiheit verzichten und so zusätzliche Entgeltpunkte erwerben - tun sie dies nicht, wird nur der Arbeitgeberanteil fällig (Beitragspflicht). Die DRV Bund hat die statistische Abgrenzung der beitragspflichtigen Entgelte in ihrer Versichertenstatistik 2019 dahingehend angepasst, dass nun erstmals der Personenkreis der beitragspflichtig, aber versicherungsfrei Beschäftigten mit einem Altersvollrentenbezug ab der Regelaltersgrenze erfasst wird. Unterm Strich bedeutet dies v.a.: Nach Revision werden alle Altersvollrentner ab der Regelaltersgrenze mit einem Mini-Job in die Entgeltstatistik der DRV einbezogen – also deutlich mehr Beschäftigte mit sehr geringen Einkommen. Es handelt sich am Ende um gut 1 Mio. Beschäftigte jenseits der Regelaltersgrenze (darunter ca. 880.000 geringfügig Beschäftigte), für die Beiträge zur Rentenversicherung gezahlt werden. »Im Ergebnis fallen dadurch die durchschnittlichen beitragspflichtigen Entgelte voraussichtlich um rund 2% niedriger aus. Dieser Effekt tritt erstmals in der Versichertenstatistik für das Jahr 2019 auf. Dies hat Folgen für die Rentenanpassung 2021, weil nach geltendem Recht der neue, revidierte Wert für das Jahr 2019 verwendet werden muss, während für das Jahr 2018 entsprechend den rechtlichen Vorgaben der noch unrevidierte Wert aus der letzten Verordnung – der Rentenwertbestimmungsverordnung 2020 – verwendet werden muss«, so der Rentenversicherungsbericht 2020. Zum Tragen kam dieser Effekt bei der Rentenanpassung 2021 nicht (Nullrunde) – wohl aber bei der Bestimmung des Rentenniveaus: Hier wird das verfügbare Durchschnittsentgelt mit dem Lohnfaktor der Anpassungsformel, der deutlich kleiner als 1 ausfällt, vervielfältigt; im Ergebnis sinkt das für die Berechnung des SvS heranzuziehende verfügbare Durchschnittsentgelt. Durch diesen Effekt fällt das Rentenniveau um rund einen Prozentpunkt höher aus. Ab 2021 sind die Niveauwerte also nur noch eingeschränkt mit denen vor 2021 vergleichbar. Der Rentenversicherungsbericht 2021 weist auch die Niveauentwicklung ohne den Revisionseffekt aus; auch die obige Grafik greift auf die Werte ohne Revisionseffekt zurück. – Aber: Für die gesetzliche Niveausicherungsklausel ist alleine das durch den Revisionseffekt erhöhte Sicherungsniveau relevant. Als Folge der Statistikrevision (und ohne eine entsprechende gesetzliche Anpassung des Berechnungsverfahrens) verliert die definierte Rentenniveauuntergrenze von 48 Prozent damit jene Sicherungsfunktion, die ihr der Gesetzgeber bei der seinerzeitigen Beschlussfassung zugedacht hatte.
Wie wird die »Riester-Rente« berechnet?
Die Modellrechnungen beruhen auf den mittleren Modellannahmen zur künftigen Entwicklung von Löhnen und Beschäftigung, die bis zum Jahr 2035 reichen und im Einzelnen dem Berichtstext zu entnehmen sind.
Für die Bestimmung des Leistungsniveaus der allgemeinen Rentenversicherung (aRV) wird Bezug genommen auf die sogenannte Standardrente mit 45 (persönlichen) Entgeltpunkten. Seit 2019 [2] wird deren (zwölffacher) Bruttobetrag im Juli des Kalenderjahres um die individuell zu tragenden Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung gemindert (= verfügbare Standardrente) und ins Verhältnis gesetzt zum verfügbaren (Jahres-) Durchschnittsentgelt aller Versicherten. Steuern werden weder im Zähler noch im Nenner berücksichtigt. Nach Multiplikation mit 100 ergibt die Relation der beiden Größen das sogenannte Sicherungsniveau vor Steuern (SvS).
Der ausgewiesenen Leistungshöhe der »Riester«-Rente (private Altersvorsorge – pAV) liegt ein durchgehender Durchschnittsverdienst zugrunde. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass für die »Riester«-Rente in der Auszahlungsphase keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung anfallen. Im Übrigen basieren die Berechnungen zur »Riester«-Rente im Rentenversicherungsbericht 2021 auf den folgenden (nicht kritikfreien) Annahmen:
- Seit dem Jahr 2002 wurde in vollem Umfang und zeitlich lückenlos »geriestert« (zusammen mit der vollen Grundzulage jährlich zunächst 1,0 Prozent [2002 und 2003] und bis 2008 ansteigend auf seither 4,0 Prozent des Durchschnittsentgelts). Für die Rentenzugänge vor 2010 (rentennahe Jahrgänge zum Zeitpunkt der Einführung) wird kein »Riester«-Vertrag unterstellt. - Wer später mit der privaten Altersvorsorge beginnt und/oder nicht im vollen förderfähigen Umfang und/oder nicht ununterbrochen vorsorgt, der kann die im Modell ausgewiesenen pAV-Niveaupunkte nicht erreichen.
- Verzinsung des Altersvorsorgekapitals bis 2014: 4,0 Prozent, 2015: 3,5 Prozent, 2016: 3,0 Prozent, 2017 bis 2024: 2,5 Prozent, danach wieder schrittweiser Anstieg auf 4,0 Prozent bis 2030.
- Verwaltungskosten in Höhe von zehn Prozent der jährlichen Prämiensumme.
- Die »Riester«-Prämie dient ausschließlich der Absicherung des sogenannten Langlebigkeitsrisikos (Alterssicherung); da die Risiken Invalidität und Todesfall – anders als bei der gesetzlichen Rente – im Modell nicht mit abgesichert werden, kann die Leistung fürs Alter – bei gegebener Prämie – höher angesetzt werden. Verglichen werden somit am Ende Äpfel mit Birnen.
- Die Dynamisierung der »Riester«-Rente in der Leistungsphase erfolgt im gleichen Umfang wie die Anpassung der gesetzlichen Rente.
Die letzte Annahme lässt bereits erahnen, dass eine Kompensation des sinkenden Rentenniveaus über die gesamte Rentenlaufzeit modellimplizit ausgeschlossen ist. Um das während der Rentenbezugsphase weiter sinkende Rentenniveau der allgemeinen Rentenversicherung auffangen zu können, müssten die Leistungen aus der privaten Altersvorsorge eine deutlich stärkere Dynamik aufweisen als die gesetzliche Rente.
Das im Rentenversicherungsbericht ausgewiesene Sicherungsniveau der Standardrente gilt sowohl für den Rentenzugang als auch für den Rentenbestand im jeweiligen Jahr. Der für die »Riester«-Rente ermittelte Wert gilt hingegen immer nur für das jeweilige Rentenzugangsjahr. Wie aber entwickelt sich die »Riester«-Rente und mit ihr das Gesamtversorgungsniveau im Rentenbestand? Zur Ermittlung der Höhe der monatlichen Privatrente bei Rentenzugang ist es ganz entscheidend, ob und in welchem Umfang die Leistung während der Auszahlungsphase dynamisiert wird. Das Bundesarbeitsministerium unterstellt eine Anpassung wie bei der gesetzlichen Rente – weist die Beträge sowie die entsprechenden Niveau-Punkte jedoch nicht aus. »Berechnungen für Rentenbestandsjahre werden nicht erstellt« [3] – so das BMAS im August 2013. Und das hat seinen Grund: Die Ergebnisse passen nämlich so gar nicht zum offiziellen Mantra.
Ergebnis: Sinkendes Gesamtversorgungsniveau während des Rentenbezugs
Denn jeder neue Zugangsjahrgang muss während der Zeit des Rentenbezugs deutliche Abstriche bei der Gesamtversorgung hinnehmen. Kam beispielsweise der Rentenzugang des Jahres 2015 zunächst noch auf ein Gesamtversorgungsniveau von 50,1 Prozent (47,7% GRV plus 2,4% pAV), so sind es nach 20 Jahren Laufzeit im Jahr 2035 nur noch 47,0 Prozent (44,8% GRV plus 2,2% pAV). Und so ergeht es sämtlichen Zugängen der einzelnen Jahre seit 2010. Sie alle landen am Ende unterhalb des Versorgungsniveaus im Zugangsjahr und sie alle liegen während ihrer weiteren Rentenbezugsdauer meist deutlich unterhalb des Niveaus von rund 53 Prozent, das bis zur Jahrhundertwende mit der damals noch »lebensstandardsichernd« ausgerichteten gesetzlichen Rente ganz alleine erreicht wurde. Selbst unter den verzerrenden Modellannahmen des Regierungsberichts kann »Riestern« das sinkende Rentenniveau nicht kompensieren – von den realen Verhältnissen ganz zu schweigen. Als Folge der (Teil-) Privatisierung der Alterssicherung zahlen die Versicherten also nicht nur einen insgesamt höheren Preis für ihre Altersversorgung (Rentenbeitrag plus vier Prozent »Riester«-Prämie), sie erhalten dafür im Gegenzug auch noch insgesamt geringere Leistungen.
[1] Zu Details vgl. hier
[2] Genaueres zur neuen Berechnung des Rentenniveaus im Rahmen des RV-Leistungsverbesserungs- und -Stabilisierungsgesetzes hier
[3] BTDrs 17/14530 v. 09.08.2013, S. 55 - Antwort der Staatssekretärin Dr. Annette Niederfranke (BMAS) auf die Frage des Abgeordneten Matthias W. Birkwald (DIE LINKE)