Diffusionsniveau 2023

Systemische Verschmelzung von Rente und Fürsorge

Diffusionsniveau ist deutlich gestiegen

Johannes Steffen | Juli 2023

Bei langjähriger Beitragszahlung aus vollzeitnaher Beschäftigung sollte die Rente eine Versorgung ermöglichen, die bei typisierender Betrachtung den Anspruch auf aufstockende Grundsicherung im Alter (deutlich) ausschließt. Ist dies nicht gewährleistet, so verliert die Pflichtversicherung an Akzeptanz. Warum sollen ein Erwerbsleben lang Pflichtbeiträge in nicht unerheblicher Höhe gezahlt werden, wenn die am Ende erreichbare Altersrente alleine Fürsorgeberechtigung nicht zuverlässig ausschließen kann?

Die systemische Verschmelzung von Pflichtversicherung (Rente) und Fürsorge (Grundsicherung im Alter) hat über die vergangenen zwanzig Jahre deutlich zugenommen. Festmachen lässt sich dies an der Entwicklung des Diffusionsniveaus.

Diffusionsniveau deutlich gestiegen

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Hierbei wird die (bundesdurchschnittliche) Einkommensschwelle für einen Anspruch auf Altersgrundsicherung ins Verhältnis gesetzt zum Zahlbetrag einer Altersrente nach 45 Beitragsjahren mit einer Entgeltposition in Höhe von 75 Prozent des Durchschnittsentgelts – also aus 33,75 originären persönlichen Entgeltpunkten. Mit dem Rückgriff auf einen 75-Prozent-Verdienst soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Akzeptanz der Pflichtversicherung nicht erst dann in Gefahr gerät, wenn sich der Zahlbetrag der Standardrente aus 45-jährigem Durchschnittsverdienst der Schwelle zur Grundsicherungsberechtigung annähert.

Das Diffusionsniveau ist von 71,1 Prozent (2003) auf 101,2 Prozent (Schätzung für 2023) gestiegen. Mit dem Zahlbetrag der Altersrente aus 45-jähriger Beitragszahlung zu 75 Prozent des Durchschnittsentgelts plus »Grundrente« kann die Schwelle zur Grundsicherungsberechtigung derzeit nicht überschritten werden.

Diese Entwicklung ist Resultat der Rentenniveausenkung sowie eines steigenden Fürsorgeniveaus bei langjähriger Versicherung. Das Rentenniveau – hier ausgewiesen als Sicherungsniveau nach Sozialbeiträgen (SnSV) – ist von 56,8 Prozent (2003) auf 52,4 Prozent 2023 gesunken wobei der Wert für 2022 durch die Corona-Krise vorübergehend verzerrt wird. Gleichzeitig ist das Fürsorgeniveau – Schwelle zur Grundsicherungsberechtigung im Verhältnis zum Durchschnittsentgelt nach Abzug von Sozialbeiträgen – von 30,3 Prozent auf 41,6 Prozent gestiegen. Beim Fürsorgeniveau schlagen – neben der Verzerrung 2022 – gegenläufige Entwicklungen zu Buche: Eine Neuregelung der Berechnung des Bruttobedarfs dämpft dessen Durchschnittswert seit 2018. Der mit dem Grundrentengesetz 2021 neu eingeführte Rentenfreibetrag in Höhe des halben Eckregelsatzes der Sozialhilfe hebt die Schwelle zur Grundsicherungsberechtigung für die referenzierte Versicherungsbiografie um einen Betrag, der seinerzeit dem  Äquivalent von 7,35 Entgeltpunkten entsprach; demgegenüber erhöht die Grundrente den Rentenanspruch bei 75-Prozent-Verdienst lediglich um 1,5435 Entgeltpunkte. Schließlich schlägt 2023 die zeitnähere Berücksichtigung der Inflation bei der Regelsatzfortschreibung deutlich zu Buche.


Rentenniveau – Fürsorgeniveau – Diffusionsniveau
Jahr1 BE2 BE nSV3 75% BE nSV3 StR nSV4 75% StR nSV5 GruSi-Grenze6 SnSV7 [5]/[3]*100 FN8 [7]/[3]*100 75% DN9 [7]/[6]*100
EUR v.H.
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7] [8] [9] [10]
2003 2.412 1.905 1.429 1.082 811 577 56,8 30,3 71,1
2004 2.422 1.914 1.436 1.072 804 598 56,0 31,2 74,4
2005 2.434 1.907 1.430 1.064 798 623 55,8 32,7 78,1
2006 2.458 1.925 1.444 1.064 798 631 55,3 32,8 79,1
2007 2.496 1.972 1.479 1.066 800 647 54,1 32,8 80,9
2008 2.552 2.023 1.517 1.074 806 664 53,1 32,8 82,4
2009 2.542 2.022 1.516 1.100 825 684 54,4 33,8 82,9
2010 2.595 2.064 1.548 1.100 825 688 53,3 33,3 83,4
2011 2.675 2.117 1.587 1.108 831 707 52,3 33,4 85,1
2012 2.750 2.180 1.635 1.132 849 727 51,9 33,3 85,6
2013 2.805 2.232 1.674 1.133 850 747 50,8 33,5 87,9
2014 2.876 2.289 1.716 1.152 864 761 50,3 33,3 88,1
2015 2.947 2.344 1.758 1.172 879 790 50,0 33,7 89,8
2016 3.016 2.392 1.794 1.220 915 804 51,0 33,6 87,9
2017 3.090 2.448 1.836 1.240 930 814 50,7 33,3 87,5
2018 3.184 2.528 1.896 1.281 961 796 50,7 31,5 82,8
2019 3.275 2.618 1.963 1.323 992 814 50,5 31,1 82,0
2020 3.264 2.607 1.955 1.367 1.025 835 52,4 32,0 81,4
2021 3.372 2.690 2.018 1.365 1.071 1.079 50,8 40,1 100,8
2022 3.242 2.583 1.937 1.437 1.127 1.090 55,6 42,2 96,7
2023 3.595 2.840 2.130 1.487 1.166 1.181 52,4 41,6 101,2
1 Dezember, 2 1/12 des Durchschnittsentgelts nach Anlage 1 zum SGB VI – 2022 und 2023 vorläufige Werte, 3 nach SV-Beiträgen (Kinderlose), 4 Standardrente aus 45 persönlichen Entgeltpunkten nach SV-Beiträgen (Kinderlose), 5 ab 2021 einschl. Grundrente, 6 bundesdurchschnittlicher Bruttobedarf in der Altersgrundsicherung außerhalb von Einrichtungen – ab 2021 plus max. Rentenfreibetrag (§ 82 a SGB XII), 2023 Schätzung auf Basis der März-Daten (923 EUR + 251 EUR), 7 Rentenniveau (Sicherungsniveau nach SV-Beiträgen – SnSV),  8 Fürsorgeniveau bei langjähriger Versicherung, 9 Diffusionsniveau

Fazit: Auch die im Koalitionsvertrag der »Ampel« vorgesehene dauerhafte Festschreibung der Rentenniveausenkung auf etwa heutigem Stand wird einen weiteren Anstieg des Diffusionsniveaus nicht verhindern können – und schon gar nicht umkehren. Notwendig wäre die deutliche Anhebung des Rentenniveaus auf dessen Stand zu Beginn des Jahrhunderts.

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