Transferentzug und Grenzbelastung

»Arbeiten lohnt sich nicht mehr« war gestern –
»Mehr Arbeiten lohnt sich nicht« lautet das neue Mantra

Johannes Steffen | Januar 2024

Die Erzählung, dass denjenigen, die arbeiten, weniger finanzielle Mittel zustehen als denjenigen, die – unter sonst gleichen Annahmen zu Haushaltsgröße, Alter und Anzahl evtl. Kinder sowie Warmmiete – Bürgergeld beziehen ohne einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, verbreiten heute nur noch unbelehrbare Trolle im Netz oder politische Akteure mit durchschaubarer Absicht. Der einschlägige Diskurs in Politik, Medien und Wissenschaft bewegt sich mittlerweile auf einer anderen Ebene. Die Diktion des politischen Mantras hat sich gewandelt von »Arbeiten lohnt sich nicht mehr« hin zu »Mehr Arbeiten lohnt sich nicht«. Dabei geht es längst nicht mehr alleine um eine Kritik an Höhe und/oder Administration des Bürgergeldes. In den Fokus der Kritik rückt das gesamte Set und Zusammenspiel einkommensabhängiger Sozialtransfers aufgrund ihrer (angeblich) ökonomisch negativen Anreizwirkung auf die Bereitschaft, Erwerbsarbeit aufzunehmen bzw. auszuweiten.

Angesprochen ist damit der zweifellos missliche Umstand, dass bei Beziehenden einkommensabhängiger Transferleistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld über mal kürzere, mal längere Einkommens-Intervalle hinweg von einem zusätzlich erzielten Bruttolohn nur wenig oder gar nichts an zusätzlich verfügbarem Einkommen verbleibt. Der Befund an sich ist nicht neu – neu ist die deutliche Verlängerung der Brutto-Intervalle in höhere Lohnbereiche vor allem infolge der Wohngeld-Plus-Reform von 2023. Zusammen mit steigenden Steuern und Sozialabgaben können die mit jedem Einkommenszuwachs sinkenden Zahlbeträge von Kinderzuschlag und Wohngeld (Transferentzug) dazu führen, dass sich ein höherer Bruttolohn am Ende nicht oder kaum merkbar in der Haushaltskasse niederschlägt. Vor dem Hintergrund eines sich zuspitzenden Mangels an Arbeitskräften scheint mal wieder der Sozialstaat einer Lösung oder zumindest einer Abmilderung der Probleme, also einer Ausweitung des Arbeitskraftangebots, im Wege zu stehen.

Solange aber dem unbefriedigenden Befund hinsichtlich des »Gebens und Nehmens« im bestehenden Steuer-Transfer-System kein fiskalisch realistisches und sozialpolitisch akzeptables Alternativkonzept gegenübergestellt werden kann, bleiben zunächst einmal nur die »Skandalisierung« des Status quo und ein verstärktes Unbehagen mit den als »zu kompliziert und unübersichtlich« empfundenen sozialstaatlichen Regelungen [1] zurück. Vor diesem Hintergrund und angesichts des Umstandes, dass der »alten« Lohnabstands-Debatte – »Arbeiten lohnt sich nicht mehr« – zunehmend die argumentative Luft auszugehen scheint, sind für die nähere Zukunft vermehrt Versuche zu erwarten, über die Skandalisierung des hohen Transferentzugs im unteren und mittleren Einkommenssegment – »Mehr Arbeiten lohnt sich nicht« – die Desavouierung sozialstaatlicher Regulierung als solcher weiter voranzutreiben und so die Akzeptanz für einen Abbau bestimmter sozialer Leistungen in der »öffentliche Meinung« aufrecht zu erhalten – und wenn möglich noch zu erhöhen. Das Ventil für den politischen Druck, den die Debatte darüber, ob sich mehr arbeiten noch lohnt, auslösen könnte, findet sich aller Erfahrung nach zum Schluss jedoch wieder am untersten Ende der Einkommensskala – bei den Beziehenden von Bürgergeld. – Aber der Reihe nach.

1. Aufstockende haben immer mehr finanzielle Mittel zur Verfügung als Nicht-Erwerbstätige im Bürgergeld-Bezug

Ganz gleich, welche Haushaltskonstellation zugrunde gelegt wird: Wer arbeitet, hat immer mehr. Dafür sorgen die Absätze 2 und 3 des § 11b SGB II . Hiernach gilt für Aufstockende [2] seit Juli 2023 die folgende Staffelung bei der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den Bürgergeldbedarf (Erwerbstätigen-Freibetrag):

  • Die ersten 100 Euro sind anrechnungsfrei; damit sollen Werbungskosten i.w.S. abgedeckt werden. Bei einem Verdienst von mehr als 400 Euro kann bei Nachweis auch ein höherer Betrag abgesetzt werden.
  • Die nächsten 420 Euro (also bis zu einem Brutto von 520 Euro) sind zu 20 Prozent anrechnungsfrei auf den Bürgergeldanspruch; das entspricht im Maximum 84 Euro.
  • Bruttolohnteile oberhalb von 520 Euro und bis zu 1.000 Euro sind zu 30 Prozent anrechnungsfrei, was im Maximum 144 Euro ausmacht.
  • Der 1.000 Euro übersteigende Bruttolohn ist bis zu 1.200 Euro (Bedarfsgemeinschaften mit Kind: 1.500 Euro) zu 10 Prozent anrechnungsfrei (maximaler zusätzlicher Freibetrag: 20 Euro bzw. 50 Euro).
  • Der aus dem oberhalb von 1.200 (1.500) Euro liegenden Bruttolohn resultierende Nettolohn wird vollständig auf den Bürgergeldanspruch angerechnet.

Obwohl es sich beim Erwerbstätigen-Freibetrag um eine Nettogröße handelt wird seine Höhe aus dem Bruttolohn bestimmt. Zusammen und im Maximum beläuft sich der anrechnungsfrei gestellte Betrag demnach auf 348 Euro (ohne Kind) bzw. 378 Euro (mit Kind). Der Erwerbstätigen-Freibetrag ist zudem personenbezogen und steht damit allen erwerbstätigen Personen einer Bedarfsgemeinschaft jeweils gesondert zu. – Für Aufstockende beträgt der Lohnabstand bei vollzeitnaher Erwerbstätigkeit zum gesetzlichen Mindestlohn damit grundsätzlich immer 348 Euro (mit Kind: 378 Euro).

2. Ist die Höhe des Lohnabstands ausreichend? – Zweifel werden gesät

Die gesetzlichen Vorgaben bezüglich des Erwerbstätigen-Freibetrags lassen sich in einem ernsthaften Diskurs nicht mehr einfach leugnen. Stattdessen wird nunmehr die Frage aufgeworfen, ob der so generierte Lohnabstand groß genug sei, um einen Arbeitsanreiz zu setzen – und aufrecht zu erhalten. Schon die Fragestellung suggeriert, es handele sich bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende (Bürgergeld) um eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, auf das je nach Gutdünken oder Befindlichkeit voraussetzungslos zurückgegriffen werden könne. Dass die Leistungsgewährung nach SGB II eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt und erwerbsfähige Leistungsberechtige – bei Strafe der Leistungskürzung – verpflichtet sind, jede (zumutbare) Arbeit aufzunehmen oder fortzuführen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu vermeiden, zu beseitigen, zu verkürzen oder zu vermindern, bleibt dabei gerne unerwähnt.

Um die vorgebliche Unzulänglichkeit der geltenden Hinzuverdienst-Höhe zu untermalen, versuchen sich einige an der rechnerische Relativierung des finanziellen Zugewinns. Ist es attraktiv genug, so die rhetorische Frage, für ein Mehr von beispielsweise 378 Euro 38 oder 40 Stunden die Woche arbeiten zu gehen? Bei einer 38,2-Stunden-Woche, so etwa Dietrich Creutzburg in der FAZ, entspreche der anrechnungsfreie Hinzuverdienst von 378 Euro einem rechnerischen »Nettostundenlohn« von lediglich 2,28 Euro. [3] Creutzburg weiter: »Nimmt man Zeit und Geld ins Kalkül, wäre es (…) jedenfalls recht attraktiv, von Vollzeitarbeit auf einen Minijob umzusteigen. Denn von diesem kleineren Verdienst wird prozentual deutlich weniger aufs Bürgergeld angerechnet als vom Vollzeitlohn. Mit 10 Stunden Arbeit je Woche für einen 520-Euro-Minijob kommen dann 184 Euro Zusatzverdienst heraus, also fast halb so viel wie mit Vollzeit. In diesem Fall beträgt der rechnerische Nettostundenlohn 4,23 Euro.« Dieser Rechnung zufolge erbringt die Reduzierung der Wochenarbeitszeit um fast 75 Prozent nahezu eine Verdoppelung des rechnerischen »Nettostundenlohns«. – Die eigenwillige Betrachtung lässt sich weiter zuspitzen: Bei einer 1,92-Stunden-Woche zum gesetzlichen Mindestlohn 2023 betrüge der anrechnungsfreie Hinzuverdienst genau 100 EUR (= Bruttolohn) was einen Brutto- wie Netto-Stundenlohn von 12,00 EUR ergibt. Gegenüber einer 38,2-Stunden-Woche wäre dies eine Steigerung des rechnerischen »Nettostundenlohns« um 426 Prozent. Die Absurdität des vorgetragenen Arguments: Wer sich auf diese Logik einlässt und durch zeitliche Reduzierung des Arbeitsangebots seinen rechnerischen »Nettostundenlohn« erhöht, vermindert im gleichen Moment sein insgesamt verfügbares Einkommen.

Wer ein niedriges Erwerbseinkommen erzielt und daher mit Bürgergeld aufstockt, hat daher womöglich einen anderen Blick auf den Sachverhalt. Für die in der Grafik angeführten vier Haushaltstypen gelten unterschiedliche Bruttolohn-Schwellen, um den Bezug von Bürgergeld beenden zu können; damit unterscheidet sich auch der für sie maximal maßgebliche Erwerbstätigen-Freibetrag. Für die Alleinerziehenden-Bedarfsgemeinschaft wie auch für den Paar-Haushalt mit Kindern liegt er unterhalb des rechnerischen Maximalwerts nach § 11b SGB II, da sie den Bürgergeldbezug bereits (weit) unterhalb eines Bruttolohns von 1.500 Euro verlassen. Das disponible Einkommen der aufgeführten Haushalte – hier definiert als verfügbares Einkommen abzüglich der Warmmiete – erhöht sich durch Erwerbstätigkeit bei aufstockendem Bürgergeldbezug im Maximum dabei keineswegs nur unwesentlich:

  • beim Single steigt es um rd. 69 Prozent,
  • bei der Alleinerziehenden mit zwei 14-jährigen Kindern um knapp 14 Prozent – hier erfolgt die Aussteuerung aus dem Bürgergeld allerdings auch bereits ab einem Bruttolohn von 600 Euro,
  • beim Paar sind es knapp 39 Prozent und
  • beim Paar mit zwei nicht schulpflichtigen Kindern beträgt der Zugewinn 22 Prozent – wobei die Aussteuerung aus dem Bürgergeld mit einem Bruttolohn von 1.110 Euro erfolgt.

Das ist viel Geld, wenn man nicht viel Geld hat.

3. Verbesserung der Hinzuverdienstregelung im SGB II – und die Folgewirkungen

Insbesondere beim kinderlosen Paar-Haushalt wirkt sich über ein Intervall von 1.120 Euro (von 1.200 EUR bis 2.320 EUR Bruttolohn) die Erhöhung des Erwerbseinkommens nicht mehr positiv auf das verfügbare Einkommen aus, da der anrechnungsfreie Hinzuverdienst mit Erreichen seines Maximalwertes (348 EUR ab einem Bruttolohn von 1.200 EUR) nicht weiter steigt (Kappungsgrenze mit anschließender Transferentzugsrate von 100%). Wünschenswert wäre in diesem Fall eine Aufhebung der Kappungsgrenze, so dass auch vom über 1.200 Euro liegenden Bruttolohn weiterhin bspw. 10 oder 20 Prozent anrechnungsfrei blieben. Vorschläge dieser Art sind nicht neu und gehen häufig einher mit der Forderung nach einer im Gegenzug stärkeren Anrechnung geringer Erwerbseinkommen bis zur Geringfügigkeitsgrenze von 520 Euro (2023).

Nun hat aber jede Ausweitung der Hinzuverdienstregelung zur Folge, dass damit c. p. nicht nur der Bürgergeldanspruch im Leistungsbestand höher ausfällt, sondern gleichzeitig auch der Kreis der Anspruchsberechtigten steigt; Erwerbstätigenhaushalte, die unter Status-quo-Bedingungen mit ihrem anrechenbaren Einkommen (dicht) oberhalb des maßgeblichen SGB-II-Bedarfs liegen, hätten dann – je nach Ausgestaltung einer Neuregelung – einen aufstockenden Anspruch auf Bürgergeld. [4] So sehen beispielsweise Blömer u.a. [5] für kinderlose Haushalte bis zu einem Einkommen von 360 Euro eine vollständige Verrechnung mit dem Bürgergeld vor. Jeder darüber hinaus verdiente Euro wird zu 60 Prozent angerechnet. Bei Haushalten mit Kind bleiben – wie heute – die ersten 100 Euro anrechnungsfrei und danach bis 360 Euro 20 Prozent. Einkommen, das 360 Euro übersteigt, wird generell nur noch zu 60 Prozent angerechnet. Und im jüngst veröffentlichten Forschungsbericht von Ifo und ZEW für das BMAS [6] schlagen die Gutachtenden vor: Einkommen von über 520 Euro monatlich sollen bis zu einer Verdienstgrenze von 2.000 Euro (statt heute 1.000 Euro) einer Anrechnungsrate von 70 Prozent unterliegen (statt heute von zwischen 80 und 100 Prozent). Einkommen jenseits von 2.000 Euro monatlich werden nicht mehr wie heute vollständig mit dem Bürgergeldanspruch verrechnet, sondern nur noch mit einer Rate von 65 Prozent. Anwendung finden soll dieser Reformvorschlag allerdings nur für Alleinstehende, Alleinerziehende und Paarfamilien mit drei und mehr Kindern, da den von den Gutachtenden gesetzten Modellannahmen zufolge nur diese mit einer Ausweitung des Arbeitsangebots auf die Neuregelung reagieren würden.

Isoliert betrachtet und in Abhängigkeit von der zugrunde gelegten Haushalts- sowie Bedarfskonstellation führen derart weitreichende Neuregelungen zu einer Rechtsverschiebung der Bruttolohn-Schwellen, ab deren Erreichen der Bürgergeldanspruch überwunden wird, bis hinauf in Regionen deutlich oberhalb des Durchschnittsentgelts der gesetzlichen Rentenversicherung . Selbst wenn die fiskalischen Kosten aufgrund eines – von den Gutachtenden aus den von ihnen selbst gesetzten Modell- und Verhaltensannahmen geschlussfolgerten – Selbstfinanzierungseffekts [7] vernachlässigbar sein sollten: Reformvorschläge zum Hinzuverdienst, in deren Folge gefühlt ein Fünftel der abhängig Beschäftigten in der Bürgergeldberechtigung – nicht auch unbedingt im Bezug (Dunkelziffer) – landet, dürften auch unabhängig von den dann anfallenden Zusatzkosten keinerlei politische Realisierungschance haben.

4. Transferentzug jenseits des Bürgergeldbezugs

Warum, so wird inzwischen auch in den digitalen Netzen gefragt, haben sich Politik und Medien in der jüngeren Vergangenheit so sehr auf den angeblich nicht (ausreichend) gegebenen Lohnabstand zwischen arbeitslosem Bürgergeldempfänger und niedrig entlohntem Beschäftigten konzentriert? Und offenbar in der Erwartung, ein wenig Druck aus der Bürgergelddebatte nehmen zu können, wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass der fehlende Lohnabstand zwischen Normal- und Besserverdienenden ein viel drängenderes Problem sei .

Denn auch jenseits der Grundsicherung für Arbeitsuchende – bei Bezug von Wohngeld und Kinderzuschlag – existieren je nach Haushaltstyp mal kürzere, mal längere Bruttolohn-Intervalle, über die hinweg trotz steigenden Verdienstes kein oder ein lediglich geringer Zuwachs an verfügbarem Einkommen zu Buche schlägt. Der Effekt eines höheren Nettolohns wird durch die gleichzeitige Abschmelzung der Ansprüche auf Wohngeld und Kinderzuschlag weitgehend oder gänzlich kompensiert – im ungünstigsten Fall an einigen wenigen Sprungstellen sogar überkompensiert.

 
 

So beträgt die ab einem den Elternbedarf deckenden Elterneinkommen einsetzende Abschmelzrate beim Kinderzuschlag 45 Prozent [8]; jeder zusätzliche Euro (netto) aus Erwerbseinkommen reduziert die Höhe des Kinderzuschlags also um 45 Eurocent. Da sich die Transferentzugsraten in der Grafik auf den Anstieg des Bruttolohns beziehen, liegen deren Prozentsätze niedriger: Beim Alleinerziehenden-Haushalt bewegt sich die Rate zwischen 23 Prozent und 28,5 Prozent – beim Paar-Haushalt zwischen 26 Prozent und 36 Prozent. Die Abschmelzraten des Wohngeldes oszillieren bei den beiden kinderlosen Haushalten zwischen 30 Prozent und 40 Prozent; bei den Haushalten mit Kindern liegen die Raten etwas niedriger – zwischen 20 Prozent und 40 Prozent (Alleinerziehende) bzw. 30 Prozent (Paar).

Die Brutto-Intervalle, über die hinweg die Grenzbelastung die 80-Prozent-Marke nicht nur punktuell überschreitet, reichen (von kurzen Sprungstellen abgesehen) beim

  • Single-Haushalt über die gesamte Strecke (810 Euro) des Wohngeldbezugs (von 1.290 Euro bis 2.100 Euro) – im Durchschnitt sind es rd. 76 Prozent,
  • Alleinerziehenden-Haushalt über eine Strecke von 720 Euro ab Beginn der Kürzung des Kinderzuschlags bis zur Aussteuerung aus dessen Bezug (von 1.970 Euro bis 2.690 Euro) – im Durchschnitt sind es knapp 100 Prozent,
  • Paar-Haushalt mit zwei Kindern über eine Strecke von 1.760 Euro ab Beginn der Kürzung des Kinderzuschlags bis zur Aussteuerung aus dessen Bezug (von 2.340 Euro bis 4.100 Euro) – im Durchschnitt sind es rd. 89 Prozent.

Beim kinderlosen Paar-Haushalt liegt die Grenzbelastung jenseits des Bürgergeldbezugs hingegen unterhalb der 80-Prozent-Marke.

Einen maßgeblichen Anteil an der Vergrößerung der Brutto-Intervalle hat die 2023 gemeinsam mit dem Bürgergeldgesetz  wirksam gewordene Wohngeld-Plus-Reform . Hierdurch wurde die Strecke vergleichsweise hoher Transferentzugsraten jenseits des Bürgergeldbezugs verlängert bzw. überhaupt erst geschaffen:

  • So etwa beim Single-Haushalt; nach der zuvor geltenden Wohngeld-Formel bestand nach Aussteuerung aus dem SGB-II-Leistungsbezug (ab 1.760 Euro Bruttolohn) wegen dann bereits zu hohen Einkommens kein Wohngeldanspruch mehr. Durch die Wohngeldreform wurde die Bruttoschwelle des SGB-II-Bezugs um rd. 470 Euro gesenkt, das verfügbare Einkommen von da an insgesamt erhöht und die bisherige Transferentzugsrate von 100 Prozent (vor dem Verlassen der SGB-II-Leistungsberechtigung) auf im Schnitt rd. 76 Prozent gesenkt (Brutto-Intervall von 1.290 Euro bis 1.760 Euro). Die verglichen mit altem Recht (ohne Wohngeld-Anspruch) höhere Transferentzugsrate über ein Brutto-Intervall von 340 Euro (1.760 Euro bis 2.100 Euro Bruttolohn) spielt sich zudem auf einem höheren Niveau des insgesamt verfügbaren Einkommens ab – verglichen mit dem Wohngeld-Rechtsstand 2022. Anders formuliert: Ohne Wohngeld-Plus-Reform und damit geringerer Transferentzugsrate – aber eben auch mit niedrigerem verfügbaren Einkommen – wäre die vermeintliche Arbeitsanreizwirkung in diesem Brutto-Intervall stärker ausgeprägt. Wer keine einkommensabhängigen Transferleistungen erhält, erfährt auch keinen Transferentzug – die Grenzbelastung eines steigenden Bruttolohns beschränkt sich in diesem Fall auf den Anstieg der Steuer- und Beitragsbelastung.
  • Ähnlich beim Alleinerziehenden-Haushalt; durch die Wohngeld-Plus-Reform ist die Bruttoschwelle des SGB-II-Bezugs um rd. 430 Euro gesunken (von 1.030 Euro auf 600 Euro), das verfügbare Einkommen bis zur Aussteuerung aus dem Wohngeldbezug (2.720 Euro Bruttolohn) über eine Strecke von 2.120 Euro z.T. merklich gestiegen und die Transferentzugsrate von 70 bzw. 90 Prozent (im Intervall des bisherigen SGB-II-Bezug) auf rd. 57 Prozent gesunken; während die Aussteuerung aus dem Wohngeldbezug nach altem Recht bereits ab einem Bruttolohn von 1.980 Euro erfolgte, besteht nunmehr bis zu einem Bruttolohn von 2.720 Euro noch ein Leistungsanspruch. Der über dieses – verlängerte – Bruttolohn-Intervall hohe Transferentzug spielt sich aber auch hier auf einem höheren Niveau des insgesamt verfügbaren Einkommens ab – verglichen mit dem Wohngeld-Rechtsstand 2022.
  • Auch der Paar-Haushalt erhält infolge der Wohngeld-Plus-Reform – wie der Single-Haushalt – erstmals überhaupt einen Wohngeldanspruch bei einer um 130 Euro gesenkten Bruttoschwelle des SGB-II-Bezugs (von 2.450 Euro auf 2.320 Euro Bruttolohn). Nach bisheriger Wohngeldformel war der für die Überwindung der SGB-II-Leistungsberechtigung notwendige Bruttolohn bereits zu hoch für einen Wohngeldanspruch.
  • Beim Paar-Haushalt mit zwei Kindern konnte die Wohngeld-Plus-Reform die Bruttoschwelle des SGB-II-Bezugs zwar nur geringfügig von 1.170 Euro auf 1.110 Euro senken. Bei unveränderter Brutto-Schwelle für den Kinderzuschlag wurde das Intervall für den Wohngeldbezug jedoch um 1.150 Euro von 3.530 Euro auf 4.680 Euro Bruttolohn verlängert. Während der Wohngeldanspruch vor der Reform bereits deutlich vor Aussteuerung aus dem Kinderzuschlag endete (470 Euro Brutto vorher) reicht er nunmehr ebenso deutlich über das Bezugs-Intervall des Kinderzuschlags hinaus (um 580 Euro Brutto).

5. Schlussfolgerungen

Soll die Transferentzugsrate und mit ihr die Grenzbelastung reduziert werden, bieten sich grundsätzlich zwei unterschiedliche Wege an. Zum einen ließe sich die mit steigendem Erwerbseinkommen einhergehende Transferentzugsrate bei Kinderzuschlag und/oder Wohngeld (deutlich) vermindern, ohne gleichzeitig das Leistungsniveau selbst zu kürzen. Folge wäre allerdings eine entsprechend deutliche Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten auf hohe bis sehr hohe Arbeitsentgelte. [9] Eine Ausweitung des Leistungsanspruchs der hier zitierten dreiköpfigen Familie auf Bruttoentgelte bis fast zur Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung dürfte die Debatte um die Zielgenauigkeit sozialstaatlicher Hilfen weiter befeuern – ganz abgesehen von den damit einhergehenden Zusatzkosten, die sich in der Realität kaum durch mikrosimulierte Selbstfinanzierungseffekte auflösen werden.

Schlussendlich ist es auch eine Frage politischer Gestaltungslogik und Redlichkeit: Wer mit Kritik an den streckenweise hohen Transferentzugsraten den Eindruck erweckt, das Problem ließe sich recht einfach über geringere Abschmelzraten und eine damit einhergehende Ausweitung des Berechtigtenkreises lösen, nährt Zweifel an beidem. Wer den »Fluch der guten Tat« – wie etwa der Wohngeld-Plus-Reform – beklagt, begegnet einer berechtigten Skepsis, wenn die nahegelegte Ergebniskorrektur auf eine nochmalige Erweiterung der Leistungsansprüche hinausläuft.

Die zweite Möglichkeit wäre eine abgeflachte Transferentzugsrate bei gleichzeitiger Senkung des Leistungsniveaus, um die zusätzlichen Kosten einzudämmen. Diese Variante wird im wissenschaftlichen Modell-Diskurs bislang (noch) nicht favorisiert und auch medial noch nicht explizit gefordert. Beides könnte allerdings nur eine Frage der Zeit sein, wenn man bedenkt, dass sich nicht nur Union und FDP – zuletzt im Zusammenhang mit dem Gesetzgebungsverfahren zur Kindergrundsicherung – verstärkt der Frage zuwenden [10], sondern auch überregionale Printmedien dem sperrigen Thema seit Monaten auffallend große Aufmerksamkeit widmen. In aller Regel profilieren sie sich ansonsten nicht gerade als sozialstaatlicher Fels in der Brandung budgetärer und sonstiger verteilungspolitischer Stürme. Mit welchem Ziel also greifen einschlägig bekannte Kritiker sozialstaatlicher Regulierung das Thema hoher Transferentzugsraten so bereitwillig auf? Denkt man an die Bürgergeld-Debatte der vergangenen Jahre, so ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, dass die gutachterlichen Analysen – trotz explizit gegenteiliger Intention oder jedenfalls Beteuerung der Gutachtenden selbst [11] – unter dem neuen Mantra »Mehr Arbeiten lohnt sich nicht« kampagnenartig für die Herabwürdigung sozialpolitischer Regulierung als solcher und am Ende für einen Abbau sozialstaatlicher Leistungen instrumentalisiert werden – ganz so, wie es schon mit dem alten Mantra »Arbeiten lohnt sich nicht mehr« exerziert wurde. Im Fokus stehen dabei (wie bisher) zuallererst Höhe und Berechnungsverfahren des Bürgergeldes – aber zunehmend eben auch einkommensabhängige Sozialtransfers außerhalb des SGB II.

Für das »Designe« des Steuer-Transfersystems wäre eine maximale Grenzbelastung von 80 Prozent während des Bezugs einkommensabhängiger Transfers fraglos eine »feine Sache«  – erst recht wenn es dazu noch einen einheitlichen Einkommensbegriff für die verschiedenen Leistungen gäbe und die Beantragung »an einem Ort« oder sogar die Leistungsgewährung »aus einer Hand« erfolgte. Bisherige Erfahrungen etwa mit dem im Vergleich dazu »leichtgewichtigen« Projekt der Kindergrundsicherung stimmen jedoch eher skeptisch.

Bleibt die Frage, welche lebenspraktische Relevanz eine Reduzierung des Transferentzugs in den heute kritischen Bruttolohn-Intervallen mit einer Grenzbelastung von 80 Prozent und mehr am Ende tatsächlich hätte. Modellimplizite Annahmen zu Verhaltensreaktionen sind das eine; so kommen etwa die Gutachtenden des BMAS-Forschungsberichts in der Grundvariante des von ihnen favorisierten Reformmodells auf eine infolge gesenkter Transferentzugsraten mikrosimulierte Ausweitung des Arbeitsangebots um 100.000 Vollzeitäquivalente. [12] Im Modell reagieren diejenigen prompt auf reduzierte Transferentzugsraten, von denen nach Einschätzung des Studienleiters im Tagesspiegel v. 05.01.2024 »wirklich niemand mehr den Durchblick« hat und »alle Wechselwirkungen« des Systems sozialer Sicherung versteht. – Arbeitszeitwünsche und zeitliches Arbeitskraftangebot sind das andere; sie hängen u.a. sehr viel mehr ab von individuellen Lebenssituationen oder -phasen – und nicht zuletzt von Umfang und zeitlicher Lage entsprechender Arbeitsplatzangebote sowie Kinderbetreuungsmöglichkeiten in der Region.

Schließlich sollte bei allen Erwartungen hinsichtlich des quantitativen Arbeitsangebotseffekts nicht völlig aus den Augen verloren werden, dass erwerbsfähige Personen, die die ihnen zustehenden Sozialtransfers nicht in Anspruch nehmen, schon von der Sache her nicht auf einen reduzierten Transferentzug reagieren können. Die Quote der Nichtinanspruchnahme des Kinderzuschlags liegt bei kolportierten 65 Prozent [13] und auch beim Wohngeld wird allgemein von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen, ohne dass sich diese bislang beziffern ließe; im Unterschied zum Kinderzuschlag umfasst die Dunkelziffer beim Wohngeld allerdings zu einem Großteil auch Menschen im Rentenalter, die gemeinhin nicht im Fokus des einschlägigen Diskurses stehen.

Wer sich anstrengt, soll am Ende auch stets entsprechen mehr im Geldbeutel haben. Dieser Grundsatz prägt die Debatte. Wegen der damit einhergehenden erheblichen Zusatzkosten für die öffentlichen Haushalte wäre der Preis für seine stringente Umsetzung aber am Ende wohl von den vermeintlich Begünstigten selber zu zahlen; denn merklich geringere Abschmelzraten etwa bei Kinderzuschlag und/oder Wohngeld dürften nur bei einer im Gegenzug insgesamt abgesenkten Leistungshöhe zu haben sein.

[1] Beispielhaft jüngst: Chaos bei Bürgergeld und Sozialleistungen: »Es hat wirklich niemand mehr den Durchblick«, Tagesspiegel online-Ausgabe v. 05.01.2024 mehr
[2] Aufstockende sind Personen bzw. Bedarfsgemeinschaften, deren SGB-II-Bedarf mit dem anrechenbaren Erwerbseinkommen sowie evtl. Kindergeld und/oder Unterhalt (-svorschuss) nicht gedeckt ist – und auch nicht durch den Bezug von Wohngeld und evtl. Kinderzuschlag gedeckt werden kann – und die daher aufstockendes Bürgergeld beziehen.
[3] Dietrich Creutzburg, Für wen sich schuften noch lohnt, FAZ v. 14.09.2023. Creutzburg bezieht sich auf eine unmittelbar nach Veröffentlichung wegen eklatanter Fehler zurückgezogene und später dann »aktualisierte« Vergleichsrechnung des Kieler IfW vom November 2022; vgl. hierzu u.a. Carsten Linnemann im Fake-Netzwerk
[4] Vgl. bspw. SVR, Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren, Jahresgutachten 2023/24, Wiesbaden 2023, Ziff. 326
[5] M. Blömer, L. Fischer und A. Peichl, Ein aktualisierter Reformvorschlag für mehr Beschäftigung und steuerliche Entlastung, ifo Schnelldienst 9/2023, S. 25 ff. 
[6] BMAS Forschungsbericht, Zur Reform der Transferentzugsraten und Verbesserung der Erwerbsanreize, Berlin, November 2023, S. 25 f. 
[7] Der Projektleiter des BMAS-Forschungsberichts, A. Peichl, gegenüber dem Tagesspiegel v. 05.01.2024 (vgl. Anm. 1): »Wir schlagen vor, Menschen, die zum Bürgergeld dazuverdienen, von diesem Geld mehr behalten zu lassen. Der Trick ist: Das lässt sich so gestalten, dass niemand schlechter gestellt wird, die Beschäftigung steigt und gleichzeitig die öffentlichen Kassen entlastet werden. Und zwar, weil über die zusätzlichen Steuereinnahmen mehr hereinkommt als die Transfers kosten. Es sind im Prinzip sich selbst finanzierende Transfererhöhungen.«
[8] Die Gutachtenden des BMAS-Forschungsberichts plädieren für eine Absenkung auf 25 Prozent; vgl. a.a.O., S. 22. Entsprechende Vorschläge zum Wohngeld waren nicht Gegenstand des Forschungsauftrags (S. 25).
[9] So zitierte etwa die online-Ausgabe der SZ am 5.12.2023 vorab folgendes Beispiel aus dem BMAS-Forschungsbericht: »Eine Alleinerziehende mit zwei Kindern, die für 1.000 Euro brutto im Monat arbeitet, erhält Bürgergeld und andere Sozialleistungen, damit es für die Familie zum Leben reicht. So kommt sie auf 2.823 Euro im Monat. Arbeitet sie nun um die Hälfte mehr, für 1.500 Euro brutto, so kommt sie am Ende des Monats auf 2.907 Euro. Sie erarbeitet sich 500 Euro zusätzlich – und gewinnt am Ende gerade einmal 84 Euro.« Und zu den Konsequenzen der im Gutachten modellierten Reduzierung des Transferentzugs heißt es weiter: »Das allerdings hätte zur Folge, dass deutlich mehr Menschen einen Anspruch auf staatliche Unterstützung haben, weil diese mit steigendem Einkommen nicht so schnell abgeschmolzen wird. Die Alleinerziehende aus dem Beispiel würde auch mit einem Bruttoeinkommen von 7.000 Euro noch einen Zuschlag auf das bisherige Kindergeld von 44 Euro erhalten.«
[10] Die FDP kann sich dabei auf den Koalitionsvertrag berufen, wo es heißt: »Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld (ehemals Arbeitslosengeld II), Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen so aufeinander abstimmt, beziehungsweise wo möglich zusammenfasst, so dass die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstmöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden.« Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit, Koalitionsvertrag 2021 – 2025 zwischen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD), BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN und den Freien Demokraten (FDP), S. 77 .
[11] Vgl. bspw. BMAS-Forschungsbericht, a.a.O. S. 11: »Ein Schwerpunkt der Analysen lag (…) auf der Erarbeitung von Reformvorschlägen (…) (die) den Schutz vulnerabler Gruppen in dem Sinne gewährleisten, dass es nicht zu einer Reduktion ihrer verfügbaren Einkommen kommt.«
[12] BMAS Forschungsbericht, a.a.O., S. 114.  – »Aber in der Tat: Wenn man in Kauf nimmt, Leute schlechter zu stellen, wären auch rechnerisch 250.000 in Vollzeit Arbeitende drin. Das haben wir aber in diesem Gutachten nicht im Detail modelliert.« A. Peichl im Tagesspiegel a.a.O.
[13] »Mit dem KiZ wurden im Dezember 2022 rund 800 000 Kinder erreicht. Dabei wird eine Inanspruchnahme von rund 35 Prozent geschätzt. Der Bundesregierung liegen allerdings keine Erhebungen und auch keine verlässlichen und belastbaren Schätzungen zu den Fällen vor, die einen Anspruch auf den KiZ haben, diesen aber nicht wahrnehmen.« - Inanspruchnahme des Kinderzuschlags, Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE, BTDrs 20/5673 v. 15.02.2023, S. 3