Freibetrag oder Zuschlag

Freibetrag oder Zuschlag für Renten in der Grundsicherung?

»Vorleistungsabhängige Fürsorge« soll ausgebaut werden

Johannes Steffen | Dezember 2018

Sollen Personen in der Alters-Grundsicherung nach SGB XII, die eine (geringe) Rente beziehen, besser gestellt werden als hilfebedürftige Ältere, die keinen Rentenanspruch erworben haben? Viele meinen: Ja, wer selbst fürs Alter vorgesorgt hat, soll davon auch bei späterer Bedürftigkeit profitieren. Für die Umsetzung eines solchen Ziels stehen unterschiedliche Verfahren zur Auswahl: Freibeträge, wie sie etwa seit 2018 für Leistungen aus zusätzlicher Altersvorsorge gewährt werden, oder aber ein anrechnungsfreier Zuschlag – entweder bemessen am individuellen Bruttobedarf (»Grundrente«) oder an der Höhe der Rente (»Plus-Rente«). Die Wirkungen der drei Verfahren fallen recht unterschiedlich aus.

Bei der Hilfe zum Lebensunterhalt sowie bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist seit diesem Jahr ein Betrag von bis zu 100 Euro monatlich (Sockelbetrag) aus einer zusätzlichen Altersvorsorge vollständig vom anzurechnenden Einkommen abzusetzen (§ 82 Abs. 4 SGB XII). Von dem den Sockelbetrag übersteigenden Einkommen aus zusätzlicher Altersvorsorge sind 30 Prozent anrechnungsfrei. In der Summe ist der Freibetrag auf 50 Prozent der Regelbedarfsstufe 1 begrenzt – das sind derzeit pro Monat 208 Euro (2019: 212 Euro).

Zur zusätzlichen Altersvorsorge rechnen bis zum Lebensende und ohne Kapitalwahlrecht monatlich zu zahlende Renten aus betrieblicher Altersversorgung sowie aus Riester- oder Rürup-Verträgen – unabhängig von einer etwaigen staatlichen Förderung. Auch Ansprüche, die auf freiwilliger Grundlage im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung erworben wurden – also beispielsweise aus Zeiten der freiwilligen Versicherung, aus Beiträgen zum Ausgleich von Rentenabschlägen oder aus Höherversicherungsbeiträgen (bis Ende 1997) – fallen unter die neue Freibetragsregelung. Wer Leistungen nach dem SGB XII bezieht und den maximalen Freibetrag ausschöpfen kann, dessen verfügbares Einkommen liegt derzeit pro Monat um 208 Euro oberhalb seines individuellen Grundsicherungsbedarfs.

Erstmals in der Geschichte der deutschen Fürsorgesysteme haben damit individueller Anlageerfolg wie -misserfolg am Kapitalmarkt Einfluss auf die finanziellen Ressourcen bei Hilfebedürftigkeit. Und: Mit der Privilegierung ausgewählter, vorleistungsbasierter Einkommen in der Grundsicherung kommt es wieder – wie in den historischen Anfängen der (staatlichen) Fürsorge – zu einer sozialpolitisch gewollten Unterscheidung zwischen »würdigen« und »unwürdigen« (Alters-) Armen.

 

Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 19. Wahlperiode heißt es u.a.: »Die Lebensleistung von Menschen, die jahrzehntelang gearbeitet, Kinder erzogen und Angehörige gepflegt haben, soll honoriert und ihnen ein regelmäßiges Alterseinkommen zehn Prozent oberhalb des Grundsicherungsbedarfs zugesichert werden. Die Grundrente gilt für bestehende und zukünftige Grundsicherungsbezieher, die 35 Jahre an Beitragszeiten oder Zeiten der Kindererziehung bzw. Pflegezeiten aufweisen. Voraussetzung für den Bezug der »Grundrente« ist eine Bedürftigkeitsprüfung entsprechend der Grundsicherung. Die Abwicklung der »Grundrente« erfolgt durch die Rentenversicherung. Bei der Bedürftigkeitsprüfung arbeitet die Rentenversicherung mit den Grundsicherungsämtern zusammen.« [1]

Und in einem Antrag an den 31. Parteitag der CDU in Hamburg fordert deren Arbeitnehmerflügel (CDA): »Alle Empfänger von Grundsicherung im Alter sollen eine Plus-Rente in Höhe von 25 Prozent ihrer individuell erworbenen gesetzlichen Rentenansprüche bekommen. Die Plus-Rente steigt daher mit jedem Euro, der zuvor in die Rente einbezahlt wurde. Dabei macht es keinen Unterschied, warum die Rente eines Menschen unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegt (z.B. aufgrund von Teilzeitarbeit, geringer Löhne, unsteter Erwerbsbiographie, usw.). Mit der Plus-Rente wird honoriert, dass mit den Beiträgen in die gesetzliche Rente für das Alter vorgesorgt wurde. Je höher die erworbenen gesetzlichen Rentenansprüche sind, desto höher ist die Plus-Rente. Dadurch werden die Leistungsgerechtigkeit und das Äquivalenzprinzip in der gesetzlichen Rentenversicherung gestärkt. Die Plus-Rente wird zusammen mit der gesetzlichen Rente von der Rentenversicherung ausbezahlt. Sie ist Anerkennung von Fleiß und Leistung und (nicht ausschließlich) eine Maßnahme zur Linderung von Altersarmut. Sie soll als gesamtgesellschaftliche Leistung aus Steuermitteln finanziert werden.« [2]

Die Wirkungsunterschiede der drei Modelle auf das verfügbare Einkommen der jeweils Begünstigten sind durchaus markant (vgl. Tabelle 1).

Freibetrags-Modell

Im Freibetrags-Modell steigt das verfügbare Einkommen mit jedem Renten-Euro – bis der maximale Freibetrag (2019: 212 Euro) ausgeschöpft ist. Dies ist im Rahmen der geltenden Regelung bei einem Rentenzahlbetrag in Höhe von rund 473 Euro der Fall (100 Euro + 373 Euro x 0,3). Von da an und bis zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit bei einer Rentenhöhe ab 912 Euro (bei unterstelltem Bruttobedarf von 700 Euro) erhöht sich das verfügbare Einkommen nicht mehr. Innerhalb des Renten-Intervalls von 473 Euro bis 912 Euro reduziert jeder zusätzliche Renten-Euro den Netto-Bedarf (Zahlbetrag) der Grundsicherung um ebenfalls einen Euro, so dass das verfügbare Einkommen konstant 912 Euro beträgt.

Deutlich wird an dieser Stelle auch: Freibeträge reduzieren das auf den Grundsicherungsbedarf anzurechnende Einkommen und führen damit immer zu einer Ausweitung des Berechtigtenkreises (modellbedingter Anstieg der statistisch erfassten »Altersarmut«). Im Beispiel steigt die Einkommensgrenze, bis zu der noch Anspruch auf aufstockende Grundsicherung besteht, von 700 Euro auf 912 Euro. Deswegen und weil die schlichte Einbeziehung von Renten der gesetzlichen Rentenversicherung in die bestehende Freibetragsregelung deutlich teurer käme als das im Koalitionsvertrag vereinbarte Grundrenten-Modell dienen die in der zweiten Tabellenspalte ausgewiesenen Beträge lediglich zur Illustration des Freibetrags-Prinzips.

Tabelle 1            
Wirkung von Freibetrag und Zuschlag auf die Höhe des verfügbaren Einkommens
Alleinstehende, Berechnungsbasis 2019, Angaben in Euro
Rentenhöhe (1) Freibetrags- bzw. Zuschlagshöhe Höhe des verfügbaren Einkommens (2)
FB (3) GR (4) PR (5) mit FB mit GR mit PR
[1] [2] [3] [4] [5] [6] [7]
100 100 70 25 800 770 725
200 130 70 50 830 770 750
300 160 70 75 860 770 775
400 190 70 100 890 770 800
473 212 70 118 912 770 818
500 212 70 125 912 770 825
600 212 70 150 912 770 850
700 212 70 175 912 770 875
769 212 1 106 912 770 875
800 212 0 75 912 800 875
850 212 0 25 912 850 875
874 212 0 1 912 874 875
911 212 0 0 912 911 911
912 0 0 0 912 912 912

FB = Freibetrags-Modell, GR = Grundrenten-Modell, PR = Plus-Renten-Modell
(1) Zahlbetrag, (2) bei einem Bruttobedarf von 700 Euro pro Monat, (3) Gestaltung analog zum geltenden Recht bzgl. Leistungen aus zusätzlicher Altersvorsorge, (4) 10 Prozent des Bruttobedarfs, (5) 25 Prozent des Rentenzahlbetrags (der CDA-Antrag lässt offen, ob auf den Brutto- oder den Zahlbetrag abgestelltt wird).
Bei den Zuschlags-Varianten ist der Überholbereich grau unterlegt.


Zuschlags-Modelle

Abgesehen von Differenzen der absoluten Beträge unterscheiden sich die beiden Zuschlags-Modelle untereinander wie auch gegenüber dem Freibetrags-Modell. Die Grundrenten-Variante begünstigt alle Berechtigten mit identischem Bruttobedarf in gleicher Höhe (10 Prozent des Bedarfs) – unabhängig vom individuellen Rentenzahlbetrag liegt das verfügbare Einkommen im Beispiel durchweg 70 Euro oberhalb des Bruttobedarfs. Bei der Plus-Renten-Variante richtet sich die Höhe des Zuschlags hingegen nach der Höhe des individuell erworbenen Rentenanspruchs – unabhängig vom individuellen Bedarf: Je höher die Rente, um so höher fällt der Zuschlag aus. Mit jedem zusätzlichen Renten-Euro steigt auch das verfügbare Einkommen – bis der Bruttobedarf durch die Rente gedeckt ist.

Im Unterschied zum Freibetrags-Modell führen die beiden Zuschlags-Varianten nicht zu einer Ausweitung der statistisch auszuweisenden »Altersarmut«. Zuschlagsberechtigt sind nur diejenigen, die bereits nach geltendem Recht hilfebedürftig sind. Dies aber schafft ein neues Gerechtigkeits-Problem. Denn allen Zuschlags-Modellen gemeinsam ist die Produktion von Überholvorgängen. Da der Zuschlag an die individuelle Hilfebedürftigkeit gekoppelt ist, geht derjenige, der gerade nicht mehr bedürftig ist, leer aus und hat am Ende ein geringeres verfügbares Einkommen als derjenige, der gerade noch hilfebedürftig ist.

Um dies zu vermeiden, ist die Einbeziehung des Personenkreises im Überholbereich geboten. Im Beispiel belaufen sich die Maximalbeträge der Zuschläge auf 70 Euro (Grundrente) bzw. 175 Euro (Plus-Rente). Bei der Grundrenten-Variante erstreckt sich der Überholbereich demnach auf Rentenzahlbeträge zwischen 700 und 770 Euro – bei der Plus-Renten-Variante auf Rentenzahlbeträge zwischen 700 und 875 Euro. Im Überholbereich wäre der maximale Zuschlag um den Betrag zu mindern, um den der Zahlbetrag der Rente den Bruttobedarf überschreitet. Wichtig ist: Zuschlagsberechtigte im Überholbereich sind und werden wegen der Zahlung des Zuschlags nicht hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung. Ihr verfügbares Einkommen verharrt bis zum Verlassen des Überholbereichs auf exakt jener Höhe, die eine vergleichbare und gerade noch hilfebedürftige Person erreicht (770 bzw. 875 Euro).

Als Zwischenfazit lässt sich festhalten: Für alleinstehende Berechtigte haben alle drei angesprochenen Modell-Varianten keine negativen Auswirkungen in dem Sinne, dass ein zusätzlicher Renten-Euro ein niedrigeres verfügbares Einkommen zur Folge hätte. Mit der Plus-Renten-Variante ist sogar für alle Rentenbeträge bis hin zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit ein steigendes verfügbares Einkommen garantiert.

Alleinverdiener-Ehepaar

Auch in Paar-Haushalten führt das Freibetrags-Modell bei steigender Rente in keinem Fall zu einem sinkenden verfügbaren Individual- bzw. Haushalts-Einkommen. Das verfügbare Einkommen liegt bei »Alleinverdienern« (im Haushalt bezieht nur eine Person anrechenbares Einkommen/Rente) ab einer Rentenhöhe von 473 Euro (Ausschöpfung des maximalen Freibetrags) und bis zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit beider Ehepartner durchgehend 212 Euro oberhalb der Bedarfssumme der Eheleute. Unterstellt man einen Bedarf von je 700 Euro pro Person, so reicht das Intervall konstanten verfügbaren Einkommens bis zu einem Rentenzahlbetrag von 1.612 Euro (700 Euro + 212 Euro + 700 Euro).

Ganz anders stellt sich die Entwicklung des verfügbaren Einkommens im Zuschlags-Modell dar. Bis zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit des Alleinverdieners ab einer Rentenhöhe von 700 Euro liegt das verfügbare Einkommen um die gleichen Beträge wie beim Alleinstehenden (Tabelle 1) oberhalb des Bedarfs.

Sobald aber die Rente den individuellen Bedarf des Zuschlagsberechtigten deckt führt

  1. jeder zusätzliche Euro an Rente zu einer Kürzung des Zuschlags um genau diesen Euro und ist
  2. gleichzeitig jeder zusätzliche Renten-Euro dem Ehepartner als Einkommen zuzurechnen, so dass dessen Anspruch auf aufstockende Grundsicherung entsprechend gemindert wird.
Tabelle 2
Wirkung der Zuschlags-Varianten auf die Höhe des verfügbaren Einkommens
Alleinverdiener-Ehepaar, Berechnungsbasis 2019, Angaben in Euro
Rentenhöhe Zuschlagshöhe Verfügbares Einkommen
des Alleinverdieners (1)
GR PR GR PR
[1] [2] [3] [4] [5]
700 70 175 770 875
750 20 125 720 825
760 10 115 710 815
769 1 106 701 805
800 0 75 700 775
850 0 25 700 725
860 0 15 700 715
870 0 5 700 705
874 0 1 700 701
875 0 0 700 700
1.400 (2) 0 0 700 700

(1) Das Haushaltseinkommen liegt um den angenommenen Bedarf des Partners (700 Euro) oberhalb der ausgewiesenen Beträge, (2) Schwellenwert ab dem auch die zweite Person nicht mehr hilfebedürftig ist.
Vgl. im Übrigen die Anmerkungen in Tabelle 1.

Während der Alleinstehende bei einem Rentenzahlbetrag von 800 Euro in der Plus-Renten-Variante am Ende auf ein verfügbares Einkommen von 875 Euro kommt (Tabelle 1), sind es – trotz gleich hohen Bruttobedarfs – beim alleinverdienenden Ehepartner nur 775 Euro (Tabelle 2). 100 Euro mehr Rente führen bei ihm also zu einem um 100 Euro niedrigeren verfügbaren Individualeinkommen – im Überholbereich beträgt die »Transferentzugsrate« somit 200 Prozent. Übersteigt die Rente den Überholbereich, so verharrt das verfügbare Individual- und Haushaltseinkommen bis zur endgültigen Überwindung der Hilfebedürftigkeit (ab einer Rente von 1.400 Euro) auf der Höhe des Bruttobedarfs (700 Euro pro Person).

Vermeiden ließe sich all das am Ende wohl nur, indem bei Zuschlagsberechtigten auch der den individuellen Bedarf übersteigende Teil der Rente von der fürsorgerechtlichen Einkommensanrechnung auf den Partnerbedarf freigestellt wird.

Bei horizontaler Einkommensanrechnung, wie sie im SGB II vorgeschrieben ist, entstünden die geschilderten Verwerfungen erst gar nicht. Hier wird das Einkommen (Rente) bedarfsanteilig auf die beiden Partner verteilt – anders als bei der vertikalen Einkommensanrechnung nach SGB XII, bei der das anrechenbare Einkommen zunächst der das Einkommen erzielenden Person zugeordnet wird. Im Ergenis hätten entweder beide Ehepartner Anspruch auf aufstockende Fürsorgeleistungen – oder keiner. Der Anspruch auf den maximalen Zuschlag ginge bis zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit beider Ehepartner nicht verloren. Allerdings wäre in einem solchen Fall die Höhe der Plus-Rente zu begrenzen auf maximal 25 Prozent des individuellen Bedarfs.

Vor der Umsetzung des Vorhabens einer Besserstellung grundsicherungsberechtigter Rentnerinnen und Rentner bleiben also noch eine ganze Reihe von Punkten zu klären. Aufgrund der Komplexität des Sachverhalts spricht bezüglich der Umsetzung der Koalitionsvereinbarung jedoch einiges für die Etablierung eines weiteren Freibetrags – zusätzlich zur geltenden Regelung: Dem Berechtigtenkreis könnte ein neuer Freibetrag in Höhe von 10 Prozent ihres individuellen Bedarfs gewährt werden; hiervon würden jene Rententeile erfasst, die nicht bereits unter die geltende Freibetragsregelung fallen – also Ansprüche aus freiwilliger Versicherung, aus Beiträgen zum Ausgleich von Rentenabschlägen oder aus Höherversicherung. Der dadurch verursachte Anstieg statistisch ausgewiesener »Altersarmut« dürfte sich aufgrund des vorgesehenen Wartezeiterfordernisses von 35 Versicherungsjahren in überschaubaren Grenzen halten. Und schließlich wäre mit einer Freibetrags-Lösung auch klargestellt, dass die Kosten der Grundrente vom Bund getragen werden.

[1] Ein neuer Aufbruch für Europa - Eine neue Dynamik für Deutschland - Ein neuer Zu-sammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD v. 07.02.2018, S. 91. – Zu einem ersten Interpretationsversuch vgl. J. Steffen, Die »Grundrente« im Koalitionsvertrag mehr
[2] Leistung muss sich lohnen: Plus-Rente für Grundsicherungsempfänger, Antrag Nr. C 3 - BV CDA mehr

 Dokument als PDF-File